"Wenn man versucht, Investoren anzuziehen, muss man eine ehrgeizige Vision haben, aber ab welchem Punkt führt man die Investoren mit großen Zahlen in die Irre? Ich sage nicht, dass Lilium sich des Investorenbetrugs schuldig gemacht hat, aber an einem bestimmten Punkt konnte ich damit einfach nicht mehr leben."
Es ist ein starkes Zitat, das der Journalist Jeremy Bogaisky, bei Forbes zuständig für Luftfahrt- und Verteidigungsthemen, in seinem Text mit dem Titel "Liliums neuer Kurs" niederschreibt. Mehrere ehemalige Lilium-Mitarbeiter haben Bogaisky einen bislang einmaligen Einblick in das Startup aus Weßling nahe München gegeben – unter der Bedingung, dass sie anonym bleiben können. Und das Bild, das sie von dem nach außen hin selbstbewusst bis arrogant auftretenden Unternehmen und seiner Chefetage zeichnen, ist alles andere als schmeichelhaft. Geschäftsführer Daniel Wiegand wird als zwar brillanter, aber auch herrischer CEO beschrieben, der viel zu viel Kontrolle über Details ausübt und trotz eines ins Stocken geratenen Entwicklungsprozesses Versprechungen macht, die nicht einzuhalten seien.
Skalierung einer Fehlentwicklung?
Gegenüber Forbes bestätigte Lilium, dass man an einer größeren Variante des Lilium Jets arbeite, konkret wollte man aber nicht werden – und bleibt damit in der Tradition, sich mit Informationen, die Kritik am Vorhaben ermöglichen, zurückzuhalten. Es sei lediglich von einer "marktführenden Transportkapazität" die Rede gewesen. Lilium wolle demnach 2022 mit der Flugerprobung des neuen Geräts beginnen und bis Ende 2023 die Zertifizierung erlangen. Einmal mehr viel Rauch um nichts?
Zu dieser Vermutung gibt der umfangreiche Artikel hinreichend Anlass. So behaupten die Ex-Mitarbeiter, dass viele engagierte Entwickler das Unternehmen in jüngster Zeit aus Frust über Wiegands Führungsstil verlassen haben. Demgegenüber wird Alexander Asseily, ein früher Investor von Lilium, von Forbes zitiert mit der Aussage, dass man zuversichtlich sei in Bezug auf den Zeitplan, da man ein seriöses, reifes Team habe und neue, erfahrene Führungskräfte aus der Luft- und Raumfahrt Entwicklungsprozesse neu strukturiert und etabliert hätten. Asseily verwies darauf, dass es wohl das größte Team im EVTOL-Bereich sei, das überdies mit der üblichen programmatischen Disziplin arbeite.
Um Aussagen von Asseily einordnen zu können, lohnt ein Blick in seinen Twitterkanal, in dem auch er bereits im Oktober 2019 von einem komplett entwickelten und getesteten Prototypen sprach. Ein Prototyp, nur wenige Flüge absolviert hatte und im Frühjahr 2020 wohl infolge eines Batteriekurzschlusses abbrannte. Aber nur weil man technische Daten und Leistungsziele immer wieder repitiert, werden sie ja nicht realistischer.
Auch der deutsche Investor Frank Thelen wiederholte gegenüber Forbes sein Vertrauen in Liliums Zeitpläne. Gegenüber dem aerokurier hatte er Anfang 2020 gedroht, das Magazin werde einen erheblichen Imageverlust erleiden, wenn es die Behauptungen mit den unrealistischen Zielen in wenigen Wochen und Monaten zurücknehmen müsse. Allerdings blieben Meldungen seitens Lilium, die eine Korrektur unserer kritischen Berichterstattung erfordert hätten, bis heute aus.
Massive Probleme bei den Flugtests
Die ehemaligen Mitarbeiter berichten gegenüber Forbes von massiven Problemen, die es schon bei der Entwicklung des ersten Prototypen gegeben habe. Auch die Flugtestkampagne habe nur minimale Fortschritte verzeichnet. Und sie weisen auf das wichtige Detail hin, dass der Prototyp ein entscheidendes Manöver nie geschafft habe: den vollständigen Übergang vom vertikalen Start- und Schwebe Modus in den Vorwärtsflug mit Flügeln, was erfordert, dass das Fluggerät Geschwindigkeit aufnimmt und seine 36 Mantelpropeller um 90 Grad dreht, so dass die Fans nach hinten gerichtet sind. Tatsächlich sieht man in jedem veröffentlichten Video, dass die Fans nur teilweise gekippt sind. Auch hat Lilium nie Videos mit Originalton veröffentlicht. Vielleicht weil der Lilium Jet nicht so leise ist, wie man es nach außen hin behauptet hat.
"Wenn man ein Flugzeug ein Jahr lang nicht im Testbetrieb hatte, noch immer erst ein paar Minuten am Stück in der Luft war und noch immer nicht den Übergang vom Vertikal- zum Vorwärtsflug bewiesen hat, zeugt es von einer unglaublichen Selbstsicherheit, zu sagen, dass man es bis 2023 schaffen wird", sagt ein ehemaliger Mitarbeiter und ergänzt, dass er es gar für unmöglich hält.
Den Insidern zufolge soll der vergrößerte Lilium Jet gut 3.100 Kilogramm maximale Abflugmasse auf die Waage bringen. Eine weitere anonyme Quelle gab Forbes Einblicke in einen Geschäftsplan, den Lilium an potenzielle SPAC-Investoren weitergegeben haben soll und aus dem hervorgeht, dass die Neuentwicklung ein Siebensitzer sein wird. Der Plan besagt demnach, dass das Unternehmen 2023 mit der Produktion von 25 Flugzeugen beginnen wird, gefolgt von 250 im Jahr 2024 und 400 im Jahr 2025, bevor es 2027 einen 16-Sitzer und 2030 ein 50-sitziges Muster auf den Markt bringt. Lilium selbst äußerte sich zu seinen Plänen wie üblich nicht, erklärte aber, optimistisch zu sein, dass der zweite Prototyp noch in diesem Frühjahr fliegen werde.
SPAC steht für Special Purpose Acquisition Company, also Mantelgesellschaften, die für einen Börsengang gegründet werden, damit Kapital einsammeln und dann vielversprechende Unternehmen kaufen. Auf diese Weise ist es möglich, Unternehmen, die noch nicht an der Börse sind, öffentlich handelbar zu machen. Bei der letzten großen Finanzierungsrunde hatte Lilium dem Bericht zufolge 275 Millionen Euro eingeworben, damit aber das Ziel, das Insider mit 450 Millionen beziffern, deutlich verfehlt. Infolgedessen ist es nicht ausgeschlossen, dass man auch bei Lilium die Finanzierung über ein SPAC in Erwägung zieht.
Entwicklungarbeit mit Reibungsverlusten
Am wenigsten dürfte der Lilium-Führung gefallen, wie ehemalige Mitabeiter die Arbeitskultur im Unternehmen beschreiben. Demnach kämen die unrealistischen Bahuptungen auf Drängen von CEO Wiegand zustande, den sie – für Startup-Gründer nicht unüblich – als unnachgiebig optimistisch und tief in jeden Aspekt des Flugzeugdesigns involviert beschreiben. In langen und anstrengenden Meetings habe er Probleme bis in kleinste Detailebenen durchdacht, bevor er gegenüber guten Argumenten nachgab oder eine Entscheidung traf. Er soll sich tief in die Schwächen der Präsentation oder der Konzepte von Mitarbeitern gebohrt und sie nicht selten ruhig und methodisch demontiert haben. Die Entscheidungsfindung sei ein massives Problem gewesen. Mitunter seien zudem Spezifikationen des Designs geändert worden, ohne alle beteiligten Ingenieure zu informieren. Wochenlange Arbeit sei teils vergeudet worden.
Selbst Yves Yemsi, ehemals Senior Vice President Procurement Programs & Supply Chainder bei Airbus, der 2019 als Chief Program Officer zu Lilium wechselte und mit einem Team von Projektmanagern versuchte, Ordnung in die Abläufe bei Lilium zu bringen, soll zu dem Schluss gekommen sein, dass es kaum möglich sei, bis 2023 eine Zulassung zu erreichen.

Die Batterien – ein ungelöstes Problem
Während sich der aerokurier in seiner Berichterstattung darauf beschränkte, festzustellen, dass das Fluggerät mit aktuell und in naher Zukunft verfügbaren Akkumulatoren die prognostizierten Werte nicht wird erreichen können, ging Forbes dieser Sache weiter nach.
Demnach hätten Wissenschaftler der Carnegie Mellon University Design-Spezifikationen verwendet, die das Unternehmen öffentlich gemacht hat, sowie Details, die von ehemaligen Lilium-Mitarbeitern zur Verfügung gestellt wurden, um abzuschätzen, wie groß und leistungsstark ein Batteriepaket für den Lilium Jet sein müsste. Auch sie setzten viele Parameter wohlwollend pro-Lilium an, kommen im Endeffekt aber zu dem Ergebnis, dass es praktisch unmöglich sei, mit aktuellen Batteriezellen mehr als eine Handvoll Mal die benötigte spezifische Leistung bereitzustellen, bevor sie durchgebrannt sind. Lilium-Investor Asseily wird von Forbes mit der sehr vagen Aussage zitiert, dass mit Partnern an einer maßgeschneiderten Batteriezelle gearbeitet werde, die Liliums Anforderungen erfüllt. Dabei werde lediglich eine "bekannte Zellchemie" optimiert, und nicht darauf gesetzt, dass experimentelle Batterien der nächsten Generation schnell ausgereift sind.
Die befragten Wissenschaftler schlussfolgern daraus, dass Lilium an einer optimierten Li-Ion-Batterie arbeitet, die möglicherweise rechtzeitig fertig wird, um den Zeitplan einzuhalten. Als problematisch beschreiben sie, dass zwar neue Batterietechnologien in der Entwicklung seien, aber die großen Produzenten aktuell die Autoindustrie im Fokus hätten. Und die brauche keine Batterien mit derart hoher spezifischer Leistung wie ein elektrisch angetriebenes Flugtaxi.
Der gesamte Artikel ist auf der Internetseite von Forbes zu finden.