Digitale Kollisionswarnsysteme bieten in bestimmten Situationen Schutz vor Zusammenstößen in der Luft. Viel zu oft aber ist die Technik noch nicht ausgereift. Den Piloten bleibt dann nur die intensive Luftraumbeobachtung. Doch die Gefahr wird häufig erst im letzten Moment wahrgenommen. Dann hilft nur noch ein glücklicher Zufall.
Laut METAR des Flughafens Dortmund herrschen am 4. Februar 2021 um 13.50 Uhr Ortszeit für das Ruhrgebiet beste Sichtflugbedingungen. Am Boden weht der Wind aus 230 Grad mit sieben Knoten. Bodensicht: mehr als zehn Kilometer bei geringer Bewölkung mit 2100 Fuß Wolkenuntergrenze.
Am frühen Nachmittag startet eine Cessna F 172H auf dem Verkehrslandeplatz Loemühle unweit von Bochum zu einem privaten Rundflug. In der PPL(A) des Piloten ist unter anderem die Berechtigung für Instrumentenflug eingetragen. Seit dem Erwerb seiner Lizenz hat der 71-Jährige insgesamt rund 2020 Stunden im Cockpit verbracht, davon etwa 1500 Stunden in der Cessna 172.
Beide Maschinen starten auf demselben Flugplatz
Nur wenige Minuten vor der Cessna ist auf demselben Flugplatz bereits ein UL-Tiefdecker gestartet. Die TL-96 Sting befindet sich ebenfalls auf einem privaten Rundflug. Der Pilot will lediglich eine erweiterte Platzrunde fliegen, um dann wieder in Loemühle zu landen. Der 59-Jährige ist wie der Cessna-Pilot allein im Cockpit. In seinem Flugbuch sind 245 Stunden Gesamtflugerfahrung eingetragen, davon etwa 100 Stunden auf der TL-96 Sting.
Unterdessen ist der Cessna-Pilot südlich von Bochum bereits wieder auf dem Rückflug. Die Cessna hat sich jedoch noch nicht zur Landung in Loemühle angemeldet, als das Verkehrswarnsystem TAS600 dem Piloten ein entgegenkommendes Flugzeug in der Elf-Uhr-Position auf gleicher Höhe anzeigt. Das Gerät gibt in der Folge auch eine akustische Warnung ab. Daraufhin dreht der Pilot sofort um 30 Grad nach rechts. Das angezeigte Flugzeug kann er aber trotz intensiver Luftraumbeobachtung nicht sehen. Tatsächlich fliegt der UL-Tiefdecker zu diesem Zeitpunkt in einer Ein-Uhr-Position aus Sicht der Cessna. Ein zusätzlich im Cockpit 172er fest verbautes FLARM-Kollisionswarngerät meldet dagegen keinen Konfliktverkehr in dem Bereich. Der Hochdecker ist jetzt rund zwölf Nautische Meilen südöstlich von Loemühle auf einem Kurs von etwa zehn Grad in 1800 Fuß unterwegs. Das GPS zeigt 110 Knoten (204 km/h) Groundspeed an.

Kollisionswarnsystem im UL meldet keine Gefahr
Die TL-96 Sting nähert sich der Cessna aus nördlicher Richtung auf einem Kurs von 240 Grad bei 90 Knoten (166 km/h). Das UL fliegt zu dieser Zeit ebenfalls in einer Höhe von etwa 1800 Fuß.
Beide Flugzeuge sind jetzt auf direktem Kollisionskurs zueinander. Die Gefahr eines tödlichen Zusammenstoßes steigt mit jeder weiteren Sekunde. Noch immer hat keiner der Piloten den anderen in Sicht. Doch dann erlebt der UL-Pilot einen Schockmoment: Nur ein bis zwei Sekunden vor dem Kreuzen der Kurse erkennt er die rote Cessna von sich aus in einer Elf-Uhr-Position. Der Hochdecker schießt nur wenige Meter oberhalb seines Cockpits in Richtung Norden an ihm vorbei. Der UL-Pilot schätzt den Abstand im Moment der größten Annäherung auf weniger als zehn Meter. Beide Flugzeuge fliegen in diesen Sekunden etwa zehn Nautische Meilen südsüdöstlich des Zielflugplatzes Loemühle. Das Kollisionswarnsystem AIR Avionics AT-01 der TL-96 Sting hat vor der Beinahe-Kollision keinen Konfliktverkehr angezeigt. Daher schien ein Ausweichmanöver aus Sicht des UL-Piloten nicht notwendig.
Die Mitarbeiter der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) werten im Zuge einer angeordneten Untersuchung des Vorfalls die Radardaten beider Flugzeuge aus.
Geringster Abstand von nur 43 Metern
Zwar bestätigt das Ergebnis die Wahrnehmung des UL-Piloten nicht. Dennoch zeigt die Auswertung, dass sich die Piloten in akuter Lebensgefahr befanden: Der geringste Abstand betrug lediglich 43 Meter (141 Fuß) horizontal und 43 Meter vertikal. Die Maschinen erreichten eine Annäherungsgeschwindigkeit von 180 Knoten (333 Kilometer pro Stunde). Nachdem sich ihre Kurse gekreuzt hatten, konnten beide Piloten sicher in Loemühle landen.
Bei der Ermittlung der Ursachen für die gefährliche Annäherung der beiden Flugzeuge analysieren die Experten der BFU die Handlungsabfolge der beiden Piloten einzeln. Der Cessna-Pilot hatte demnach zwar aufgrund des angezeigten Konfliktverkehrs eine Kurskorrektur vorgenommen, die Flughöhe jedoch beibehalten. Die Kursänderung nach rechts sei grundsätzlich nachvollziehbar, heißt es von Seiten der BFU. Im Benutzer-handbuch des TAS600 werde aber "ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Richtungsanzeige des sich annähernden Konfliktverkehrs falsch sein kann". Auch könne nicht ausgeschlossen werden, dass das System die Warnung falsch verstanden oder verarbeitet habe. Als bessere Reaktion auf die erste Warnung sehen die Ermittler eine zusätzliche Änderung der eigenen Flughöhe. Zugleich hätte der Pilot die Flughöhe des Konfliktverkehrs beobachten können. Vom Transponder abgestrahlte Höheninformationen würden eine größere Sicherheit bieten, da sie auf einer barometrischen Messung beruhen, so die Ermittler.
Darüber hinaus habe der Pilot auf ein wesentliches Sicherheitsfeature verzichtet: den Flight Information Service (FIS). Wäre er auf der Frequenz gewesen, hätten ihm die FIS-Lotsen auf Radardaten basierende Verkehrsinformationen und Ausweichempfehlungen geben können.
Die Sicht aus dem Cockpit der Cessna könnte sich zudem nachteilig auf die Handlungsweise des Piloten ausgewirkt haben. Nach vorn ist der Blickbereich aus dem Schulterdecker in gleicher Höhe durch das Instrumentenpanel deutlich eingeschränkt. Eine Beeinträchtigung der Sicht aufgrund des Wetters schließt die BFU aber aus.
Im Cockpit der T-96 Sting führten vermutlich gleich mehrere Probleme dazu, dass der Pilot den Konfliktverkehr nicht rechtzeitig wahrnahm. Das UL flog wie die Cessna in zirka 1800 Fuß. Erst Sekunden vor dem Passieren der Cessna erkannte der Pilot das engegenkommende Flugzeug. Er hatte in dieser Situation keine Chance mehr, ein Ausweichmanöver einzuleiten. Das Kollisionswarnsystem des ULs hatte offenbar keine Warnmeldung abgegeben. Außerdem hatte der UL-Pilot die FIS-Frequenz ebenfalls nicht gerastet und somit keine Chance, Verkehrsinformationen des Dienstes zu erhalten. Dies hätte die Situation deutlich entschärfen können.

Eingeschränkte Sicht auch im UL-Cockpit
Auch aus dem Cockpit der Sting war die Sicht des Piloten nach links vorne in gleicher Höhe möglicherweise durch das Panel leicht eingeschränkt. Zudem erschwerte vermutlich der Sonnenstand zum Zeitpunkt des Geschehens das Erkennen der Cessna, da die Sonne aus dem UL-Cockpit dieselbe Position hatte wie die Cessna.
Formal ist in der Durchführungsverordnung der EU Nr. 923/2012 geregelt, welches Flugzeug im Falle kreuzender Kurse ausweichen muss. Darin heißt es: "Kreuzen sich die Flugrichtungen zweier Luftfahrzeuge in nahezu gleicher Höhe, so hat das Luftfahrzeug, bei dem sich das andere Luftfahrzeug auf der rechten Seite befindet, auszuweichen." Demnach hätte im vorliegenden Fall die Cessna ein geeignetes Ausweichmanöver einleiten müssen. Aufgrund der fehlerhaften Meldung der Kollisionswarnung konnte der Pilot allerdings nicht angemessen reagieren. Eine rechtzeitige Wahrnehmung und Reaktion durch Luftraumbeobachtung waren offenbar nicht möglich.
Nur wenige Sekunden Reaktionszeit
Besonders gefährlich wirkte sich bei der Annäherung der beiden Flugzeuge der Faktor Zeit aus: Den Piloten blieben lediglich sechs beziehungsweise zehn Sekunden, um den Konfliktverkehr wahrzunehmen. Diese Reaktionszeiten berechnete die BFU bei der Rekonstruktion des Vorfalls. Im Abschlussbericht der Untersuchung stellen die Fachleute fest: "Diese Zeit reicht nicht aus, ein entsprechendes Ausweichmanöver einzuleiten." Das Prinzip "See and Avoid" könne bei zwei Flugzeugen dieser Größe, die aufeinander zufliegen, und bei dieser Fluggeschwindigkeit ohne funktionierende Kollisionswarnsysteme oder radargestützte Verkehrsinformationen nicht funktionieren.

Kein Schutz durch Kollisionswarnsysteme
Ernüchternd fällt bei der Analyse des Falls auch die Bewertung der Kollisionswarnung aus. Beide Flugzeuge waren mit entsprechenden Systemen ausgerüstet, dennoch konnte der Beinahe-Zusammenstoß dadurch nicht verhindert werden. Die BFU kommt sogar zu dem Schluss, dass sich die Kollisionsgefahr durch die fehlerhafte Warnung des Systems in der Cessna sogar noch erhöhte. Bei der Sting sei davon auszugehen, dass dieses nicht funktionierte, heißt es im Abschlussbericht. Der Grund: Offenbar war die FLARM-Firmware zum Zeitpunkt des Geschehens veraltet. Außerdem sei der UL-Pilot nicht sicher gewesen, "ob die Option zum Anzeigen von Flugzielen ohne genaue Positionsangabe überhaupt ausgewählt war". Eine mögliche Fehlermeldung des AT-01 war nicht sichtbar, da das Gerät unter dem Pilotensitz verbaut ist. Die BFU-Ermittler gehen jedoch davon aus, dass beide Piloten eine aussagekräftige Warnmeldung erhalten hätten, wenn das System der TL-96 Sting funktioniert hätte.
Kollisionswarngeräte können prinzipiell einen wesentlichen Beitrag zum Schutz vor gefährlichen Annäherungen und Zusammenstößen bieten. Voraussetzung ist aber ein technisch ausgereiftes System, das mit denen anderer Verkehrsteilnehmer kompatibel ist. Diese Voraussetzung sieht die BFU derzeit aber in vielen Fällen als nicht gegeben.
Die Empfehlung der Unfallermittler lautet daher: Bei Flügen, die über die Umgebung des Startflugplatzes hinausgehen, sollten Piloten generell FIS nutzen. Dies könne das Verfahren "See and Avoid" unterstützen.
Grenzen des Verfahrens "See and Avoid"
Die Grenzen der Luftraumbeobachtung im Rahmen des Prinzips "Sehen und gesehen werden" treten bei ähnlichen Vorfällen regelmäßig in den Fokus der Unfallermittler. Im Dezember 2012 war es in der Wetterau zur Kollision einer Piper PA-32 und einer Robin DR 400 gekommen. Beide Flugzeuge waren in spitzem Winkel bei stehender Peilung aufeinander zugeflogen. Keines der beteiligten Flugzeuge hatte ein Kollisionswarnsystem an Bord. Nach den Ausweichregeln der LuftVO hätte die PA-32 ausweichen müssen, da sie sich formal in einem Überholvorgang befand. Jedoch konnte der Pilot aufgrund der stehenden Peilung, wegen blendenden Sonnenlichts und wegen einer ungünstigen Geländestruktur die Robin nicht rechtzeitig erkennen. Acht Menschen starben durch den Zusammenstoß der beiden Flugzeuge. Eine Simulation ähnlicher Annäherungen wie bei dem Unfall ergab damals, dass die Probanden des Experiments das jeweils andere Flugzeug durchschnittlich erst 9,2 Sekunden vor dem Zusammenstoß bemerkten.