Ukrainekrieg: Segelflugzeuge als Kamikaze-Drohne?

Ukrainekrieg
Segelflugzeuge als Kamikaze-Drohnen?

Zuletzt aktualisiert am 17.06.2025
Segelflugzeuge als Kamikaze-Drohnen?
Foto: Lars Reinhold

Es dauerte nicht lange, bis die Information über den "Kamikaze-Segelflieger" auch die Luftsport-Communitys in den sozialen Netzwerken erreicht hatte. Hier wurde eine Beitrag des Kanals "The New Voice of Ukraine" geteilt, der wiederum das Portal Defense Express zitiert, in dem über den Fall berichtet wird. Unter der etwas ungelenken Überschrift "Ukraine Uses Not Only A-22 Aircraft, but Also Kamikaze Glider with a 100-kg Warhead for New Strike on Facility in russia" beschreibt der Autor, wie der Angriff angeblich abgelaufen ist und welche Parallelen sich zu ähnlichen Einsätzen in früheren Kriegen ziehen lassen.

Angriff auf Drohnenfabrikin Tatarstan

Demnach fand der Angriff am Sonntag, dem 15. Juni, statt und galt einer Fabrik für von Russland eingesetzte Shahed-Drohnen in der Sonderwirtschafszone Alabuga nahe der Stadt Jelabuga in der autonomen russischen Republik Tatarstan. Zunächst hätten ukrainische Medien die Vermutung geäußert, dass die A-22 Foxbat, ein Ultraleicht-Muster des Ukrainischen Hersteller Aeroprakt, als unbemannter Bomber an diesem Angriff beteiligt gewesen sei. Später sei jedoch im Telegram-Kanal "Oberst des Generalstabs" eine Analyse veröffentlicht worden, aus der hervorgehe, dass für diesen Angriff "eine Verbindung zwischen dem Flugzeug A-22 und einem Kamikaze-Segelflugzeug mit einer 100-Kilogramm-Sprengladung" verwendet worden sei, was durch ein ebenfalls veröffentlichtes Foto bestätigt worden sei.

Der Onlinedienst Deepl übersetzt den Text aus dem Ukrainischen wie folgt: Ein Tandempaar aus einem Leichtflugzeug A-22 und einem Segelflugzeug erreichte das Werk in Alabuga (Foto 1).Das Schleppen des Segelflugzeugs durch das Flugzeug ist ein typisches Verfahren, um sie in die Staffelung zu bringen, wo sie nach dem Abkoppeln dank der Luftströmungen selbstständig weiterfliegen (Foto 2). Das Segelflugzeug hat keinen Antrieb, daher fliegt es nach dem Abkoppeln in der Nähe des Ziels sofort auf dieses zu. Das Segelflugzeug ohne Piloten kann eine Kampfladung von bis zu 100 kg tragen Auf diese Weise können zwei Ziele in großer Entfernung vom Startplatz mit einer relativ großen Sprengkraft getroffen werden.

Der Text suggeriert, dass neben dem Segler auch das Schleppflugzeug mit Waffen ausgestattet gewesen sein muss oder gar selbst als eine Art motorisierte Bombe in ein Ziel gelenkt wurde.

Erster einsatz eines Segelflugzeugs als Waffenträger

Sollte der Einsatz wirklich so wie beschrieben stattgefunden haben, wäre dies ein Novum in der Geschichte des Luftkrieges. Zwar wurden Segelflugzeuge in Form von Lastenseglern bereits im Zweiten Weltkrieg zum Transport von Soldaten und Material eingesetzt, aber als eigenständige Waffe – das ist neu.

EADS

Vergleichbar wäre dies allenfalls mit den Mistel-Gespannen, die die Wehrmacht ab Juni 1944 im Abwehrkampf gegen die Rote Armee einsetzte. Dabei wurden Bomber vom Typ Junkers Ju 88, deren Zellen abgeflogen waren, von ihrem Cockpit befreit und stattdessen eine 4500 Kilogramm schwere Sprengladung installiert. Auf dem Rücken der Junkers wurde mit drei Streben ein Jagdflugzeug, zumeist eine Bf 109, aufgesetzt, von der aus der Pilot das gesamte Gespann bis kurz vor das Ziel steuerte. Im Endanflug auf das Ziel wurde der Autopilot des Bombers aktiviert, so dass der Pilot das Führerflugzeug absprengen und mit diesem zurück zum Stützpunkt fliegen konnte.

US Army

Bilder und Videos schüren Zweifel

Dass insbesondere die wirtschaftlich im Vergleich zum Aggressor Russland schwächere Ukraine mitunter einfachste Provisorien effektiv im Kampf einzusetzen vermag, ist inzwischen hinlänglich bekannt. Der Einsatz eines normalen Sport-Segelflugzeugs als Träger einer Sprengladung indes scheint trotz des Medienrummels eher unwahrscheinlich.

Zunächst passen die veröffentlichten Bilder und Videos nicht zu den Aussagen im oben genannten Telegram-Kanal. Die Fotos zeigen zwar einen Segelflugzeug-Schlepp, allerdings ist das Schleppflugzeug hier keine Aeroprakt A-22, sondern eine polnische PZL-104 Wilga, ein Muster, das zwischen 1962 und 2008 rund 1000 Mal gebaut wurde und vor allem als Sport- und Schleppflugzeug zum Einsatz kam. Beide Flugzeugtypen sind Schulterdecker, aber ihre Silhouetten unterscheiden sich doch erheblich. Im ersten der beiden Fotos fehlt das für die A-22 typische Bugrad, im zweiten Foto ist die Wilga klar durch das große Heckfenster zu identifizieren. Die Bilder und auch das Video zeigen also defintiv keinen Schlepp mit einer A-22. Auch die Illustration aus Aeroprakt und Segelflugzeug, die vielfach zu den Beiträgen veröffentlicht wurde, beinhaltet einige Fehler, beispielsweise ein Schleppseil, das direkt aus einer Antenne am Rumpf der A-22 herauszuwachsen scheint, und einen duetlich zu geringen Abstand der Flugzeuge zueinander.

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Was macht die Flugphysik?

In verschiedenen Quellen heißt es, die Aeroprakt sei für autonome Flüge modifiziert worden, benötige also keinen Piloten. Das erscheint zumindest in technische Hinsicht plausibel, da die A-22 beispielsweise für den US-Markt mit Autopilot angeboten wird. Dieses System derart anzupassen, dass eine Steuerung via Funk möglich wird, dürfte keine allzu große Herausforderung sein.

Viel kritischer ist der autonome Flug bezüglich des Seglers zu Bewerten. Autopiloten in Segelflugzeugen gibt es bisher nicht, lediglich Projekte wie die fs36 der akaflieg Stuttgart oder das Fly-by-Wire-Segelflugzeug Nixus, das 2019 erstmals in die Luft ging. Vom autonom fliegenden Segelflugzeug ist man allerdings noch weit entfernt. Dazu kommen aerodynamische überlegungen: Ein klassischer Schlepp hinter einem Motorflugzeug verlangt vom Piloten andauernd kleine Korrekturen mit Höhen-, Quer- und Seitenruder, um der Motormaschine sauber hinterherzufliegen, in thermisch aktiver Luft oder bei kräftigem Wind kann ein Schlepp überaus anspruchsvoll sein. Und auch für den weiteren Flug nach dem Ausklinken bedarf es einer ausgeklügelten Technologie, um den Segelflieger autonom oder ferngesteuert ins Ziel zu führen.

Schließlich sät auch ein Blick auf die Lage des vermeintlichen Ziels weitere Zweifel am Wahrheitsgehalt der Meldung über den Segelflug-Bomber: Die Sonderwirtschaftszone Alabuga liegt zwischen den Großstädten Nischnekamsk und Nabereschnyje Tschelny – und damit mehr als 1000 Kilometer von der Ukraine entfernt.

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