Es fällt schwer, daran zu glauben, dass das Stück schwarzes CFK, das in einer Werkstatt im bayrischen Erding zwischen zwei auf einem BMW montierten Siebdruckplatten klemmt, den Leistungssegelflug revolutionieren soll. Auf den ersten Blick erkennt der Laie nur ein Brett und weiße Streifen, der geneigte Segelflieger erahnt ein Profil und zwei Reihen Mylarbänder. Aber warum zwei? Reicht nicht ein Band an der Hinterkante, um den Spalt von Wölbklappe oder Querruder abzudichten und widerstandsträchtige Durchströmungen zu reduzieren? Nein. Zumindest nicht dann, wenn man sich von etablierten Denkmustern und Konstruktionsideen lösen und etwas Neues, etwas Zukunftsträchtiges entwickeln will. Wenn man "All In" geht und versucht, das Maximum herauszuholen.
Das MILAN-Projekt
Um zu erklären, was es mit dem Doppelmylarstreifen auf sich hat, muss man etwas weiter ausholen. Johannes Achleitner hat an der TU München Maschinenbau studiert und bei der Akaflieg die Mü 31 von der Auslegung bis zum Bruchversuch begleitet und auch den Erstflug durchgeführt. Nach Abschluss seines Studiums widmet sich Achleitner, den ein früherer Kommilitone als "blitzgescheiten Typen mit verrückten Ideen" beschreibt, der Optimierung von Flügelprofilen, bei denen stets ein Kompromiss zwischen Auslegung für Langsam- und Schnellflug gefunden werden muss. Ab 2018 forscht er im Projekt MILAN an einem Flügel, bei dem zusätzlich zur Wölbklappe die Vordersektion elastisch verformt wird. Bei abgesenkter (gemorphter) Nase bietet dieser Flügel einen höheren maximalen Auftriebsbeiwert innerhalb der Laminardelle, was wiederum erlaubt, die Flügelfläche und damit die umströmte Oberfläche unter Beibehaltung der Kreisflug- und Überziehgeschwindigkeit zu verkleinern. Die maximale Flächenbelastung dagegen kann erhöht werden. Dadurch ergeben sich sowohl eine höhere maximale Gleitzahl als auch höhere Gleitzahlen bei hohen Geschwindigkeiten.
In mehreren Teilprojekten werden neben der Profil- und Flügeldynamik auch die Optimierung der Topologie durch Verformung der Rippen, die Elastizität der Flügelschale im Bereich der Profilnase und die statische und dynamische Aeroelastik der gesamten Flügelkonstruktion untersucht. Die Forschungsarbeiten finden ihren Abschluss im Bau eines 2,40 Meter langen Demonstrationsmodells in Form eines voll funktionsfähigen Innenflügels für einen 18-Meter-Segler.
Erhebliche Leistungszuwächse
"MILAN war für uns ein Riesenprojekt", sagt Achleitner rückblickend. "Ein Budget von 2,4 Millionen Euro einschließlich Mitteln aus der Luftfahrtforschung (LUFO), fünf Vollzeitstellen und das Ganze über dreieinhalb Jahre – das war schon was!" Achleitner hat die Erkenntnisse in einer Doktorarbeit verarbeitet, deren Bewertung allerdings noch nicht abgeschlossen ist. Sein Fazit verrät er trotzdem: "Wir konnten einerseits nachweisen, dass die bewegliche Profilnase erhebliche Leistungszuwächse und bis zu 20 Prozent mehr Auftrieb ermöglicht. Andererseits wurde klar, dass es die extrem komplexe Konstruktion der Morph-Nase mutmaßlich nicht in den Serienbau schaffen würde." Zwar sei eine Kooperation mit einem Segelflugzeughersteller angedacht gewesen, am Ende habe sich das Unternehmen aber doch lieber für den Bau eines konventionellen Entwurfs entschieden.

Bau des DLF-Demonstrators.
An diesem Punkt könnte das Thema "veränderliche Profilnase im Segelflug" in die ewigen Jagdgründe nicht verwirklichter Ideen der Luftfahrt eingehen, aber Achleitner will die geleistete Arbeit nicht einfach wegwerfen. Allerdings ist ihm klar, dass das System deutlich vereinfacht werden muss, um eine Chance auf praktische Anwendung zu haben. Also konstruiert er um, verabschiedet sich von der flexiblen Oberfläche und konzipiert den Flügel mit einer als Klappe ausgelegten Nasenleiste neu. So lassen sich die Einzelteile konventionell bauen, und auch die Ansteuerung wird deutlich einfacher.
Um seine Idee praktisch umzusetzen, bedient er sich des Netzwerks, das jeder gute Akaflieger im Laufe seines Studiums – oder korrekter: der Zeit des Nicht-Studiums in der Werkstatt – aufbaut. Zuerst stößt Maximilian Dorsch zum Projekt, erfolgreicher Wettbewerbspilot, gelernter Leichtflugzeugbauer und Prüfer im LTB Eichelsdörfer. Er kennt sich mit der praktischen Umsetzung technischer Ideen bestens aus. Philip "Bofrost" Theilmann und Philipp "Donut" Strobach haben mit Achleitner, in Akaflieg-Kreisen unter dem Pseudonym "Brezn" bekannt, bereits an der Mü 31 gearbeitet und nach ihrem Abschluss die Firma MP2 Carbon aufgebaut, die zunächst für einen Privatmann ein Hochleistungs-UL konstruiert und gebaut hat. Nach Abschluss des Projekts fokussierten sich die beiden auf komplexe Fräsarbeiten und Formenbau und arbeiten für große Unternehmen aus der Luftfahrt und dem Automotive-Sektor. Allesamt sind sie begeisterte Segelflieger und von der Idee, mit einer Innovation noch viel mehr aus den Flugzeugen herauszuholen, wie elektrisiert.
Steigerungspotenzial nur am Flügel
Die Erkenntnis, dass die Rümpfe moderner Segelflugzeuge kaum noch Potenzial für Verbesserungen bieten, lässt die weitere Arbeit am Profil logisch erscheinen. Da selbst die etablierten Hersteller bei ihren jüngsten Mustern hier nur noch marginale Leistungsgewinne erzielen konnten, scheint der Ansatz mit der doppelten Klappe vielversprechend.
"Weitgehend unstrittig ist, dass man den Höchstauftriebsbeiwert von starren Profilen mit einer Wölbklappe von 1 auf bis zu 1,5 steigern kann", erklärt Achleitner. "Mit aufwendigen Berechnungen wurde allerdings klar, dass die Kombination aus Wölb- und Nasenklappe einen Wert von 1,75 ermöglicht." Für jene, denen das zu kompliziert ist, führt der Ingenieur Zahlen ins Feld, mit denen jeder Segelflieger auch ohne technisches Studium etwas anfangen kann. "Bei Erfüllung der in der Bauvorschrift CS-22 geforderten maximalen Stall Speed von 90 Kilometern pro Stunde kann das von uns berechnete Profil bei einem 18-Meter-Segler eine Gleitzahl von 58 bei 130 Kilometern pro Stunde erreichen, bei 200 Kilometern pro Stunde sind immer noch 42 möglich. Die maximale Flächenbelastung steigt durch Reduktion der Flügelfläche auf 8,5 Quadratmeter auf 70,6 Kilogramm pro Quadratmeter – weit mehr als bisher realisiert."
Im Gegensatz zum MILAN-Prototyp hat DLF anstatt der verformbaren eine bewegliche Profilnase ähnlich einer Kippnase, die beispielsweise am Innenflügel von A380 und den Nasenleisten der MiG-23 oder Northrop F-5 zur Anwendung kommt. Die Nase ist als separate Klappe am Flügel montiert, was sich technisch wesentlich einfacher realisieren lässt als die komplexe Mechanik bei MILAN. "Zwar müssen wir auf der Ober- und Unterseite einen Spalt abdecken, aber diese aerodynamische Unsauberkeit geht im positiven Gesamteffekt der Nasenklappe nahezu unter", so Achleitner. Für die Konstruktion des Profils, das in der Langsamflugstellung – also zum Kurbeln in der Thermik – auf der Oberseite konturstetig und knickfrei ist und in der Schnellflugstellung – beim Vorflug zwischen den Bärten – die gleichen Eigenschaften auf der Unterseite aufweist, hat er ein Patent angemeldet, sodass er jetzt damit an die Öffentlichkeit gehen kann.

Die Ansteuerung zweier Klappen erfordert eine komplexe Mechanik.
Demonstrator fertig
Bei der praktischen Umsetzung des Double Flap Laminar Airfoil Demonstrators kann er auf die Expertise seiner Mitstreiter bauen. In hunderten Stunden baut Maximilian Dorsch ein kurzes Stück Flügel mit voll funktionsfähiger Klappenmechanik. Vor allem bei der Konstruktion der Steuerung spielt ihm seine Praxiserfahrung aus der LTB-Arbeit in die Hände. Denn wer regelmäßig Dinge repariert, der weiß, was technisch funktioniert und was nicht. "Man kann an Prototypen Dinge so und so bauen. Beides mag erst mal funktionieren, aber wenn es um Serienbau oder gar Instandsetzung geht, muss es so einfach wie möglich sein."

Der Demonstrator des Double Flap Laminar Airfoil, kurz DLF.
Doch das Modell soll auch für praktische Messungen herhalten, um zu zeigen, dass die rechnerischen Annahmen "an der frischen Luft" noch immer gelten. Allerdings: Für solche Messungen braucht es einen Windkanal, und Zeit im Windkanal kostet Unsummen an Geld. Was also tun? "Die Idee, so etwas selber zu bauen, mag erst mal absurd klingen, lag aber auch irgendwie nahe", sagt Achleitner und verweist auf die Kreativität von "Bofrost" und "Donut". "Am Anfang stand das Wälzen von Paragraphen, sagt Philip Theilmann. "Wir mussten rausfinden, was wir eigentlich auf das Dach eines Autos bauen dürfen. Und die Einschränkungen waren überraschend gering: in der Höhe nicht über vier Meter, in der Breite nicht mehr als das Auto. Und natürlich galt es, die Dachlast von 75 Kilo einzuhalten." Dass die ganze Konstruktion auch einer Vollbremsung standhalten muss, das versteht sich von selbst, fügt er mit ernster Miene an.
Windkanal im Eigenbau
Als fahrbarer Untersatz muss Achleitners 3er Touring herhalten. Für dessen Dachträger tüftelt das Team in einem guten halben Jahr eine Box mit offener Vorder- und Rückseite aus, in deren oberem Drittel ein Mechanismus montiert ist, in dem der Profildemonstrator eingespannt und gedreht werden kann, um den Anstellwinkel gegenüber dem Fahrtwind zu verändern. Hinter dem Profilstück ist eine Schiene mit einem sogenannten Nachlaufrechen montiert, der die Messung des Profilwiderstandes ermöglicht. Das Gerät ist eine Leihgabe des DLR. Um die Druckverhältnisse auf der Ober- und Unterseite des Profils zu untersuchen, sind hier insgesamt 96 Bohrungen eingebracht, die wiederum über Schläuche mit Drucksensoren verbunden sind. So lässt sich die Druckverteilung um das Profil und damit der Auftrieb in Echtzeit messen. Weiterhin sind GPS- und Staudrucksensoren an Bord, um den Einfluss des Windes auf die Messwerte herausrechnen zu können. Zudem gibt es eine Wärmebildkamera, denn laminare und turbulente Strömungen sind in der Thermografie gut voneinander zu unterscheiden.

Die DLF-Crew mit dem Eigenbau-Windkanal auf einem BWM.
Zunächst ist die Konstruktion zu schwer fürs BMW-Dach, sodass die beiden Philipps ihre Fräskompetenz nutzen, um Aussparungen in die Siebdruckplatten einzubringen und deren Gewicht zu reduzieren. Später werden die Stützstreben für eine bessere Aerodynamik verkleidet, da der BMW sonst nicht mehr über 180 Stundenkilometer hinauskommt.
Versuche auf der Autobahn
Eine Autobahnstrecke zwischen Erding und München – frisch asphaltiert und entsprechend eben – wird zur Teststrecke. "Nachts, wenn wenig los ist, fahren wir und vermessen das Profil unter verschiedensten Bedingungen", sagt Achleitner. Dafür braucht es mindestens einen halben Kilometer freie Strecke vor dem BMW, sonst stören die Turbulenzen vorausfahrender Fahrzeuge. Allerdings: Ohne Rückschläge geht dieses Projekt nicht vonstatten. "Es gibt hier in der Umgebung exakt eine Unterführung, die keine vier Meter Durchfahrtshöhe hat", sagt Theilmann und feixt in Richtung Achleitner, der die Augen verdreht und einräumt, die ganze Konstruktion einmal einem sanften Crashtest unterzogen zu haben. Dennoch erweist sich der Eigenbau als gelungene Konstruktion. Im Gegensatz zu einem stationären Windkanal hat der mobile zudem den Vorteil, dass das Team aufgrund der nahezu unbegrenzten Messzeit schneller statistisch Relevante Datenreihen schaffen kann. In zahlreichen Fahrten können sie den DLF vermessen und nachweisen, dass das Konzept nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch funktioniert.

Neben einem Nachlaufrechen, der die Druckverteilung hinter dem Profil misst, sind weitere Drucksensoren, GPS, Wärembildkamera und Staudrucksonde am Windkanal verbaut.