Tief hängende Wolken, aus denen hier und da Schleier von Regen fallen – die Region Südtondern empfängt mich mit typisch norddeutschem Wetter. Gestern und auch die ganze Nacht hindurch hat es geschüttet, sodass ich meine Hoffnung, dass heute fliegerisch irgendwas geht, weitgehend im Frühstückstee ertränkt habe. Die Aventofter hingegen sind überraschend gut gelaunt. Das kann kaum allein am Besuch des aerokuriers liegen und auch kaum am wechselhaften Wetter, das bereits die erste ihrer beiden Sommerflugwochen begleitet hat. "Das wird noch", kommentiert Hans-Ulrich Henningsen, der als Vorsitzender die Geschicke des Clubs lenkt. Jaja, denke ich mir und nutze die Zeit erst einmal, um mich vor Ort ein bisschen umzusehen.
Klar ist: Tiefer geht es kaum, zumindest in Bezug auf deutsche Flugplätze. Die ICAO-Karte weist für das Segelfluggelände eine Höhe von 3 Fuß aus. In Worten: drei. Knapp 100 Zentimeter über dem Meeresspiegel. Meine nassen Schuhe allerdings lassen eher vermuten, dass man das mit der Höhe nicht ganz so genau genommen und dem Platz aus Mitleid überhaupt eine Elevation zuerkannt hat. In digitalen Karten sieht es anders aus: zwischen null und minus zwei Metern. Das kommt eher hin, denke ich.
Klein aber fein
Knapp einen Kilometer lang ist der Grasplatz, er liegt 500 Meter südlich des Dorfes Aventoft und damit in unmittelbarer Nähe zum Gotteskoog, dem größten Polder in Nordfriesland. Eine Halle, ein Vereinsheim mit kleiner Werkstatt und auf halber Piste ein Tanklager – mehr braucht es nicht, um noch nördlich von Flensburg (ja, das geht!) Segelflugbetrieb zu organisieren. Vieles ist alt, aber gut in Schuss. Die Winde sticht mir besonders ins Auge: ein alter MAN-Langhauber-Lkw, auf dem der Aufbau so montiert ist, dass die beiden Seiltrommeln längs zur Fahrtrichtung stehen, der Laster also quer zur Schleppstrecke aufgestellt werden muss. "Zumindest das Fahrgestell ist ehemaliges Bundeswehrgerät, das auf verschlungenen Wegen zu uns fand", sagt Henningsen und muss lachen, bevor er ergänzt, dass während der Pioniertage in Aventoft so einiges unkompliziert umgelagert wurde. "Was damals weg musste, musste halt weg."

Ein paar Segler, zwei TMG und ein paar verrückte Piloten – das sind die Zutaten, die es für einen Luftsportverein im Norden braucht.
Etwas später macht das Wetter tatsächlich auf, und plötzlich kommt Bewegung in den Haufen, der gerade noch gemütlich auf der Terrasse Kaffee geschlürft hat. Und, Tatsache, sogar den ein oder anderen Jugendlichen sieht man herumwuseln, als die Tore aufgeschoben werden, um die Winde und die ASK 13 zwecks Schulung aus der Halle zu holen. Auch einer der beiden Falken hat schon den Tankrüssel im Nacken, Platzrunden für die Ausbildung stehen auf dem Programm.
Flugbetrieb auf der Sumpfwiese
Mir ist indes immer noch unklar, wie auf dieser Sumpfwiese Segelflugbetrieb funktionieren soll. Der Lepo, ein alter Passat 35i, hat sich schon zweimal festgefahren. Andernorts hätte man entnervt aufgegeben und den Flugschülern mit Einwänden wie "Aber die Grasnarbe …!" klargemacht, dass nichts geht. Nicht so beim LSV Südtondern. Ausbildungsleiter Alexander Willberg kramt einen Satz Schneeketten aus dem Kofferraum. "Ich hab’ die vor Jahren mal gekauft, aber nie benutzt. Meine Frau meinte, ich solle die endlich wegschmeißen. Mal gucken, ob sie hier funktionieren." Spricht’s und macht sich daran, die Ketten auf den Passat zu fummeln. Und siehe da, wenige Minuten später pflügt der VW mit ungewohntem Grip über die nasse Wiese. Ich weiß nicht, ob ich das mit Kopfschütteln quittieren oder den Kampfgeist der Piloten hier bewundern soll, die wirklich mit allen Mitteln versuchen, den Gesamtumständen Flugzeit abzuringen.

Der Lepo mit Schneeketten auf der nassen Wiese.
Die Seile hat indes der alte Trecker von der Winde zum Start gezogen, und der erste Flugschüler klemmt sich ins Cockpit der ASK 13. Dahinter, als FI, Hans-Ulrich Henningsen. Bei dem straffen Wind ist die 13 nach wenigen Metern Rollstrecke in der Luft. Wobei es Rollstrecke nicht trifft. Gleitstrecke passt hier deutlich besser. Die Ausklinkhöhe ist ordentlich, was dem Schüler selbst ohne Thermik Zeit verschafft, seine Übungen zu fliegen.
Etwas später sitze ich selbst im Cockpit. Seil straff, wegsteigen lassen, sanft ziehen. Die Steigwinkelkontrolle kombiniere ich mit einem flüchtigen Blick über die Marschlandschaft. Mir kommt der Spruch eines Uelzener Fliegerkameraden in den Sinn, den der beim Salzmanncup rausgehauen hat: "Wir haben hier wenig Landschaft, aber viel Gegend." Das trifft auch auf die Region Südtondern zu. Aber die "Gegend" aus grünen Wiesen, Äckern und viel Wasser hat auch ihren Reiz, und davon gar nicht mal so wenig.
Hindenburgdamm im Blick
Die Steigwerte lassen langsam nach, ich senke die Nase und bin überwältigt vom Blick auf die Küste. Ziemlich genau 15 Kilometer sind es von hier bis zum Beginn des Hindenburgdamms, der das Festland mit Sylt verbindet. Das Zentrum der Insel liegt etwa 30 Kilometer voraus und ist nur schemenhaft zu erkennen. Querabflug nach links, in Richtung der etwa zwölf Kilometer entfernten Stadt Niebüll. Der Gegenanflug führt über den Aventofter Wald, ein Wassergraben und ein Weg bieten eine gute Orientierung. "Der kleine Deich dort ist die Grenze zu Dänemark, dahinter sieht man den Flugplatz Tøndern. Weiter westlich markiert der Fluss Süderau, auf dänisch Sønderå, den Übergang ins Nachbarland", erklärt mein Guide.
Bei der Platzeinteilung muss ich mich umgewöhnen. Wer sonst auf Twin III oder Duo Discus fliegt, sollte die Gleitleistung einer ASK 13 bei straffem Gegenwind nicht überschätzen. Also eher steil rein und mit etwas Überfahrt, um sicher durch die Turbulenzen zu kommen. Abfangen, ausschweben – der Einschlag im Globus gleicht der Fangseil-Landung auf einem Flugzeugträger. Abbremsen von 70 auf 0 in weniger als einer Radumdrehung. "So läuft das bei uns", kommentiert Hans-Ulrich.

Klassisches norddeutsches Segelflug-Stillleben: ein Traktor und eine ASK 13.
Nach zwei weiteren Einweisungsflügen macht mir der Vorsitzende ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann: "In der Halle steht meine DFS Weihe 50. Lust auf einen Flug?" Kurze Zeit später sitze ich im Cockpit des Oldies und stelle fest, dass meine gar nicht so breiten Schultern gerade so in den Haubenausschnitt des Rumpfes passen. Die Einweisung ist norddeutsch-nüchtern: "Fliegt wie jedes andere Flugzeug, hat nur keine Klappen. Slippen kannste, oder?" Die Weihe ist das 64. Flugzeugmuster meiner fliegerischen Karriere, und da ich bereits in weit kapriziöseren Geräten saß, freue ich mich mehr auf den Flug, als dass ich mir wirklich Gedanken mache, was schiefgehen könnte.
Mit der Weihe in die Luft
Der Start fühlt sich seltsam an, denn der Flügel der Weihe ist vergleichsweise weich, sodass er Böen viel stärker abfedert als die Tragflächen der ASK 13. Kaum ausgelevelt und abgekurvt, merke ich, wie ein Aufwind unter die Flächen greift. Thermik hier oben, auf dem nördlichsten Festlandflugplatz Deutschlands! Die Weihe ist für das schwache Steigen genau das richtige Gerät. 18 Meter Spannweite, eine große Flügelfläche und in Verbindung mit dem vergleichsweise geringen Gewicht eine Flächenbelastung von irgendwas um die 16 Kilogramm je Quadratmeter – da hilft selbst ein laues Lüftchen, um sich obenzuhalten. Insgesamt werden es vier Flüge auf dem Oldie, in denen ich die Umgebung ein wenig erkunde und feststelle, dass es auch weit jenseits von Alb und Mittelgebirgsrennstrecken schöne Fluggebiete gibt.

Daumen hoch: aerokurier-Kapitän Lars Reinhold in der DFS Weihe 50 von Clubchef Hans-Ulrich Henningsen.
Das dachten sich offenbar auch jene Piloten, die den LSV Südtondern 1960 gründeten. Der Club entstand als Abspaltung der Sportfluggruppe Leck, die auf dem 15 Kilometer südöstlich von Aventoft gelegenen ehemaligen Fliegerhorst residiert. Zunächst flogen die LSV-Mitglieder in Flensburg, erst Ende der 60er Jahre zog man auf das Areal nahe Aventoft um. Bis 1925 war der heutige Flugplatz ein See, der im Zuge der Eindeichung des Marschlandes trockengelegt und infolge wasserbaulicher Maßnahmen in den 50er Jahren nutzbar gemacht wurde. Also trocken und nutzbar nach nordfriesischen Maßstäben. "Die Arbeiten zur Trockenlegung halten bis heute an, nur infolge der Bewirtschaftung der Entwässerungsgräben, die die ganze Region durchziehen, ist es hier überhaupt möglich, Landwirtschaft zu betreiben oder Flugbetrieb", kommentiert Henningsen die Situation.
Der LSV im Fernsehen
Trotz der Umstände – kleines Vereinsheim mit Strom aus dem Generator, der ebenfalls aus Bundeswehrbeständen abgezweigt wurde – entwickelt sich der Club im Laufe der Jahre, die Mitgliederzahl und der Flugzeugpark wachsen. 1974 kommt der LSV Südtondern sogar ins Fernsehen: Für eine Episode der ZDF-Serie "Aus dem Logbuch der Peter Petersen", die die Crew eines Seenot-Rettungskreuzers auf ihren Einsätzen begleitet, landet ein Vereinspilot eine abgeschriebene ES 49 im flachen Wasser vor der Küste der Insel Amrum. Ein Bild im Vereinsheim erinnert heute an diese denkwürdige Episode.
Apropos Vereinsheim: Das wurde 1997 neu gebaut, nachdem eine Verpuffung infolge eines Defekts an der Gasheizung das Dach des Anbaus hatte abheben lassen, wie Henningsen mit einem Kopfschütteln erzählt. Treibende Kraft hinter dem Neubau damals: Gerhard Allerdissen, viele Jahre Vorsitzender des Luftsportvereins, Fliegern aber eher bekannt als Präsident des Deutschen Aero Clubs, der zwischen 2000 und 2007 amtierte.

1974 kam man mit der Wasserlandung eines Segelflugzeuges für eine Serie sogar ins Fernsehen.
Ein Höhepunkt in der Vereinshistorie ist die Austragung des Vintage Glider Meetings 1999. Über zehn Tage war der kleine Flugplatz Zentrum des Oldie-Universums, 85 Crews kamen mit ihren historischen Segelflugzeugen hierher, um ... ja was eigentlich? Thermik zu fliegen? "Natürlich haben wir hier keine Bedingungen wie die Hotspots in Mittel- und Süddeutschland. Die Thermik setzt spät ein, und kaum dass es wirklich geht, zerreißt der Seewind die Bärte", gibt Hans-Ulrich Henningsen ein Lagebild. "Allerdings, hin und wieder sind auch mal fünf Stunden Thermikflug und die ein oder andere Strecke möglich, wenn die Seewindsysteme zu Konvergenzen führen."
Nordess und Ostsee in einem Flug
Überhaupt, fügt er an, sei der Reiz des Fliegens im Norden ein ganz anderer. "Man startet, sieht direkt die Nordsee. Und wenn man es auf 800 Meter über Grund schafft und die Luft klar ist, sieht man von hier aus auch die Ostsee. Zwei Meere direkt vor der Haustür – an welchem Flugplatz hat man das sonst?" Erlebnis- anstatt ergebnisorientiertes Fliegen, darum geht es hier.

1999 richtete der Club das Vintage Glider Meeting aus.
Dennoch spürt man im Gespräch, vor allem mit der Jugend, dass auch die Lust auf mehr da ist. Johann, ein junger Pilot kurz vor der Lizenzprüfung, schiebt sich erst in dem Moment die DG-100 an den Start, als die Wolken mehr als nur Platzrunden verheißen. Und, Tatsache, zweieinhalb Stunden bleibt er oben. Ich sitze inzwischen in der ASK 13 auf dem Rücksitz und mache mich nützlich. Wer hierher kommt und den Eintrag FI in der Pappe hat, wird ganz schnell zwangsverpflichtet – schanghait, wie man in der Seefahrt sagt, wenn Unwissende mit Alkohol, Gewaltandrohung oder List zum Borddienst auf Handels- oder Militärschiffen verpflichtet wurden. Aber weder Schnaps noch die erhobene Faust brauchte es, um mich zu überzeugen. "Drei Fluglehrer, von denen einer nur selten Zeit hat, das ist unser Problem", hatte Henningsen geklagt. Ehrensache, hier zu helfen.
Nach zwei Tagen und gut dreieinhalb Flugstunden auf ASK 13 und Weihe verabschiede ich mich von Aventoft und dem LSV Südtondern. Und behalte in Erinnerung, dass Gäste hier gerne willkommen sind und eine feuchte Wiese noch lange kein Grund ist, den Segelflugbetrieb abzusagen.