AirLeben: Gletscherflüge in den Schweizer Alpen

AirLeben - Gletscherflüge in der Schweiz
Mit der Eisfee in die Stille

Veröffentlicht am 16.02.2024

Wann ich heute am Flugplatz sein könne, werde ich via WhatsApp gefragt. "In zwei Stunden?", lautet meine Antwort. "Das passt perfekt! Bis später." Seit ich weiß, dass Stefan Oswald mit seiner Piper Super Cub, genannt "Eisfee", im Winterhalbjahr auf den Gletschern der Schweiz fliegen geht, war für mich klar, dass ich das mindestens einmal erlebt haben muss. Unsere Abmachung stand schon lange, doch manche Dinge bedürfen einer gehörigen Portion Spontanität. Ein wunderschöner, windschwacher Wintertag mit frischem Schnee in höheren Lagen ermöglicht uns ein kurzfristiges Treffen. Ich sehne den Feierabend herbei, weiß ich doch, dass mich ein ganz besonderes Erlebnis erwartet.

Sandro Mederle

Luftfahrt im Blut

Stefan ist ein fliegerischer Tausendsassa: In seinen jungen Jahren steuerte sein Vater Modellflugzeuge und flog mit Hängegleitern; später entschied er sich, bei der Fluggruppe Mollis die Privatpilotenlizenz zu erwerben. Stefan wurde so schon von Kindesbeinen an in den Bann der Aviatik gezogen. Für ihn indes blieb es nicht beim Hobby, die Fliegerei machte er zum Beruf: Er ist Kapitän auf Airbus A320 und A340 bei einer Schweizer Fluggesellschaft, und auch in der Freizeit ist er lieber in der Luft als am Boden. Nebst seiner Tätigkeit als Fluglehrer im Verein unternimmt Stefan auch gerne kleinere oder größere Reisen mit den vereinseigenen Maschinen. Im Winterhalbjahr schlägt sein Herz für den Gletscherflug.

Stefan Oswald

Erfahrener Bergpilot verkauft "Eisfee" – und gibt Unterricht

Der Flugplatz wurde zu Stefans zweitem Zuhause, und zu den vielen Piloten, die er im Laufe der Zeit kennenlernte, gehörte auch der Vorbesitzer der "Eisfee", ein begeisterter Gletscherpilot und Bergfluglehrer. Eines Tages fragte Stefan, ob er mit auf den Gletscher dürfe, und erlebte seinen ersten Flug in die weiße Welt. Danach waren die beiden über Jahre hinweg immer mal wieder auf den lokalen Gletschern anzutreffen. "Nach einem der vielen gemeinsamen Flüge bot ich ihm aus einer Laune heraus an, den Flieger zu übernehmen, sollte er ihn irgendwann verkaufen wollen", sagt Stefan. Er habe nie damit gerechnet, dass dieser Fall so schnell eintreten würde: Als sich nur eineinhalb Jahre später die Lebensumstände des Vorbesitzers änderten – er wurde Großvater –, entschied er sich zum Verkauf des Flugzeugs und bot es Stefan an. Gemeinsam mit zwei Freunden wurde die Super Cub fortan in einer Haltergemeinschaft betrieben. Die drei frischgebackenen Flugzeugeigner handelten einen Deal aus: Da der Vorbesitzer als Fluglehrer für die Bergflugberechtigung schulen durfte und sehr erfahren war, sollte er die drei im Gletscherflug ausbilden. Im Gegenzug durfte er weiter mit "seiner Eisfee" fliegen, bis sein Rating abgelaufen war und er sich voll und ganz seinem Enkelkind widmen konnte.

Tom Luethi

We all fly in a yellow Super Cub

Die "Eisfee" ist eine Piper PA-18 Super Cub, Baujahr 1967 und trägt die Kennung HB-OLX. "Vor rund dreißig Jahren musste das Flugzeug nach einem Landeunfall neu aufgebaut werden", lässt mich Stefan wissen. Seit dieser Reparatur leistet ein Lycoming O-360 mit 180 PS unter der Cowling seinen Dienst, ab Werk gab es dieses Modell nur mit 150 PS. Bei den Dichtehöhen, in denen dieses Flugzeug bewegt wird, ist aber jedes Pferdchen mehr gerne gesehen. Weit weniger verbreitet als der Motor ist der vierblättrige Holzpropeller. Stefan lacht, als ich ihn darauf anspreche: "Jeder, der diesen Propeller sieht, will immer wissen, was es damit auf sich hat. Es ist ein Hoffmann-Propeller, der bei gleicher Leistung weniger Lärm produziert." Das Alter sieht man der rüstigen Dame nicht an. Sie ist sehr gepflegt und sauber, strahlt mit der Sonne um die Wette. Die gelbe Farbe passt: Die "Eisfee" ist für mich ein Taxi in eine fremde Welt. "Wollen wir?", fragt Stefan. "Na klar, nichts wie los!"

Joel Basler

Destination: Eisige Wildnis

Ich werde auf den Flug vorbereitet und gebrieft. "Bitte pass gut auf, dass du dem Stick die volle Bewegungsfreiheit gibst und nicht eingreifst!" Ich würde es nicht wagen – diese Arbeit überlasse ich dem Profi und konzentriere mich voll und ganz auf die Rolle als Passagier, der nichts anderes tun muss, als die atemberaubende Aussicht zu genießen. Über dem Gletscher werden wir uns nahe an den Felswänden bewegen, wobei aufgrund des wenigen zur Verfügung stehenden Platzes zwischen den Bergflanken größere Querlagen nötig sind als beim entspannten Alpenrundflug. Das Gletscherfliegen wirkte auf mich bisher wild und wagemutig, doch ist es vielmehr überaus präzise und vorausschauend und folgt klaren Regeln. "Es werden keine wilden Manöver vollführt", erklärt Stefan.

Tom Luethi

Kompliziertes Einsteigen – doch wenn man erstmal sitzt…

Das Einsteigen mit 1,90 Metern Körpergröße und ein paar Kilo zu viel auf den Rippen gleicht einem Limbo. Es geht durch die kleine Tür ins Innere, das linke Bein muss über den Knüppel gehievt werden, das rechte sollte auch irgendwie rein – und bloß nicht zu sehr auf den Flügelstreben abstützen. Geschafft! Hat man sich erstmal in die Super Cub gezwängt, sind die Platzverhältnisse gar nicht mal so unüppig. Im Gegensatz zur Ur-Cub sitzt der Pilot vorne, der Passagier hinten. Der Motor schnurrt wie ein Kätzchen, und die Startstrecke fällt überraschend kurz aus. Zügig schraubt sich die Piper in die Höhe. Plötzlich beugt sich Stefan nach vorne und vollführt eine Pumpbewegung. Was er da macht, frage ich ihn über das Intercom. "Im Reiseflug und für die Gletscherlandungen muss ich die Ski absenken." Ein Flugzeug, das nach dem Start "gear down" geht – auf diesem Flug ist wirklich alles anders. Der Flug von Mollis aus zum Glärnischfirn, der sich rückseitig des Glarner Hausbergs Glärnisch befindet, dauert nur zehn Minuten.

Andrin Fretz

Im Anflug aufs ewige Eis

Im Funk ist die 130.355 gerastet. Diese Frequenz gilt für alle 40 Gebirgslandeplätze in der Schweiz, von denen 24 für Flächenflugzeuge geeignet sind. Sie wird aber nicht nur von Flugzeugen und Helikoptern genutzt, die tatsächlich im Schnee landen, sondern auch von umsichtigen vorbeifliegenden Piloten, die sich so auf dem Laufenden halten, was um sie herum passiert. Über den Äther bekommen wir mit, dass ein Flugzeug gerade auf dem Glärnischgletscher Touch-and-gos trainiert. "HB-OLX, reko Glärnisch höch", sendet unsere Funkantenne auf dem Dach in die Außenwelt, "Sali Stefan", ertönt es gutschweizerisch zurück. Man kennt sich, erkennt einander anhand der Stimme und der Registrierung, ist eine eingeschworene Gemeinschaft. "Auf einem Gletscher zu landen hat nichts mit dem Glamour zu tun, mit dem die Fliegerei von Fußgängern und Laien oft verbunden wird. Gletscherpiloten sind vielmehr sehr naturverbunden und machen das aus einer vergleichbaren Motivation wie beispielsweise Bergsteiger. Sie fügen sich der Kraft der Natur. Hoch in den Alpen in einem Kleinflugzeug ist man gegen die Natur ein Niemand", sagt Stefan. Auch wir werden einige Touch-and-gos hinlegen und dabei nie das andere Flugzeug aus den Augen verlieren. Auf 8800 Fuß über dem Meer setzen wir bergauf mit ziemlich viel Leistung auf. Mit Standgas landen und gleichzeitig dem ansteigenden Gelände folgen geht nicht, das Timing bei der Landung und das Zusammenspiel zwischen Anstellwinkel, Powersetting und Geschwindigkeit ist essenziell.

Joel Basler

Gletscherflug will gekonnt sein

Hier zu landen setzt eine hohe Präzision voraus. Ein gekonnter Tritt ins Seitenruder, nicht zu früh und nicht zu spät, dreht die "Eisfee" auf ihren Skiern in einer eleganten Kurve um 180 Grad. Auf dem Schnee gibt es keine Bremsen, Lenkbewegungen werden einzig über das Seitenruder umgesetzt. Mit Vollgas geht es den Gletscher runter. Stefan bringt die Super Cub schnellstmöglich aus dem Schnee und beschleunigt bodennah weiter. Ohne den Widerstand der Kufen im weißen Pulver geht es besser voran, wir nutzen das physikalische Prinzip des Bodeneffekts. Mit genügend Geschwindigkeit zieht er den Flieger nach oben und bringt uns in einer sanften Rechtskurve nahe an das Terrain. Das andere Flugzeug setzt gerade zur Landung an, wir kommen einander nicht in die Quere. Nachdem wir an Höhe gewonnen haben und wieder genügend Platz zum Manövrieren vorhanden ist, geht es in einer eher engen Linkskurve zurück zum Gletscher. Wieder setzen wir sanft auf und drehen auf dem Schnee um. Das andere Flugzeug steigt davon und verabschiedet sich über Funk, wir sind für uns allein.

Tom Luethi

Parkbremse auf Wasserbasis

Nach ein paar weiteren Landungen an verschiedenen Stellen des Gletschers wollen wir anhalten und aussteigen. Stefan dreht die "Eisfee" dieses Mal nur um 90 Grad zur Landerichtung, will die Beschaffenheit des Schnees am Hang prüfen. Die PA-18 rutscht seitlich leicht ab, will nicht zum Stehen kommen. Nochmals Vollgas und eine weitere Landung. Beim zweiten Versuch klappt es dann: Der Flieger schiebt wieder leicht links weg, doch die Schneemenge seitlich der Kufen reicht dieses Mal aus, um ihn sicher festzuhalten. Sich selbst bildende Chocks aus Schnee – auch das habe ich noch nie erlebt. Wir steigen aus, und ich gehe meine ersten Schritte auf einem Gletscher. Es ist totenstill, nur ein leichter Wind ist wahrzunehmen. Hier ist nichts außer rauer und wunderschöner Natur. Es herrscht eisige Kälte, immerhin vermag die Sonne ein wenig Wärme zu spenden. "Wenn du eine kleine Auszeit von der Welt brauchst, dann musst du hierhin", sagt Stefan. "Für mich ist der Gletscher ein Kraftort, hier kann ich Energie tanken." Ich komme nicht umhin, ihm beizupflichten. Ich genieße diesen magischen Moment, mache ein paar Fotos zur Erinnerung.

Joel Basler

Früher Rückflug – denn der Berg verzeiht wenig

Wenige Minuten später unterbricht ausgerechnet mein Pilot die Ruhe und schlägt vor, dass wir wieder den Weg ins Tal antreten. So früh? Die Sonne steht doch noch so weit oben am Himmel. "Eine wichtige Regel beim Gletscherflug lautet: zwei Stunden vor Sonnenuntergang.", sagt er. Spätestens um diese Zeit will er im Flieger sein und die Heimreise antreten. Sollten jetzt die Batterie, der Anlasser oder sonst etwas am Flugzeug versagen, bliebe noch genügend Zeit, um bis Sonnenuntergang einen Helikopter zu organisieren, der uns ins Tal fliegt, die "Eisfee" als Unterlast gleich mit, erklärt mir der erfahrene Bergflieger. Für den Fall, dass alle Stricke reißen, liegt immer Notfallmaterial im Gepäckfach, um auf dem Gletscher biwakieren zu können. Auch etwas Proviant ist mit an Bord. Ohne entsprechendes Equipment wäre eine Nacht hier oben bei zweistelligen Minustemperaturen kaum zu überleben.

Sandro Mederle

Eine Erinnerung, die bleibt

Glücklicherweise müssen wir weder Luftrettung noch das unfreiwillige Camping beanspruchen. Der Motor unseres Fliegers verrichtet klaglos seinen Dienst, und wir treten unseren Rückflug an. Im Anflug auf Mollis tauschen wir die Ski wieder mit den Gummireifen. Hierfür pumpt Stefan erneut eine knappe Minute lang an der manuell betätigten Hydraulik. Wieder setzen wir sanft auf, dieses Mal mit Standgas und auf Asphalt. Der Flug war kurz, und doch hat diese Zeit gereicht, um in eine völlig fremde Welt einzutauchen. Airline-Captain, Fluglehrer, Gletscherpilot: Wer das alles erreicht hat, kann sich fliegerisch kaum noch weiterentwickeln. Was kommt als Nächstes? "Es gibt ja noch Drehflügler. So was könnte meine Beschäftigung in der drohenden Midlife-Crisis werden", sagt Stefan lachend, und während wir die "Eisfee" putzen und verräumen, träume ich mich zurück in die Berge, ins ewige Eis. Ich komme wieder. Ganz bestimmt!