Unfallanalyse: Kodiak 100-Absturz in Rendsburg-Schachtholm

Kodiak 100 Crash in Rendsburg
Wenn die Notfallübung zum Notfall wird

Zuletzt aktualisiert am 10.04.2024

Fluglehrer versuchen gerne, jede Minute bei einem Trainingsflug so effektiv wie möglich zu nutzen. Schließlich gilt gerade bei der Ausbildung: Zeit ist Geld. Besonders das Notfalltraining steht dabei oft im Fokus. Ausnahmesituationen wie Leistungsverlust oder ein Motorausfall sollen so realistisch wie möglich für den Ernstfall geübt werden. Doch die gut gemeinte Trainingseinheit kann besonders in kritischen Flugphasen schneller als gedacht zu einem erheblichen Sicherheitsrisiko werden.

Erfahrene Piloten im Cockpit

So ergeht es den Insassen eines Flugzeugs, das am 12. September 2022 vom Verkehrsflughafen Hamburg aus startet. Dort sind an diesem Tag der Besitzer einer Kodiak 100, ein Flugschüler und ein Fluglehrer für einen Ausbildungsflug zum Erwerb der Klassenberechtigung auf dem Muster verabredet. Die vorne sitzenden Piloten sind Profis und haben beide langjährige Erfahrung vorzuweisen. Der 42-jährige Flugschüler ist Berufspilot mit ATPL(A) und selbst Fluglehrer. Er hat eine Gesamtflugerfahrung von rund 8500 Stunden, davon 1500 als PIC auf einmotorigen Turboprops. Den Theorieteil zum Erwerb der Klassenberechtigung für die Kodiak hat er bereits erfolgreich abgeschlossen.

Daher

Fluglehrer mit beinahe 50.000 Landungen

Der 57-jährige Fluglehrer ist ebenfalls langjähriger Berufspilot mit zahlreichen Klassenberechtigungen, unter anderem für Piaggio P.180, Pilatus PC-12 und Kodiak 100. Außerdem hat er die Einträge IR, SEP (sea) sowie die Kunstflug- und Gebirgsflugberechtigung. Er ist Fluglehrer für CPL, PPL, SE SP, ME SP, Nachtflug und Instrumentenflug. Sine Gesamtflugerfahrung beläuft sich auf beeindruckende 15 369 Stunden und 45 865 Landungen. Auch als Fluglehrer gilt er mit 11 100 Stunden als besonders erfahren. Nach einer Besprechung über die anstehenden Trainingseinheiten startet die Kodiak am frühen Nachmittag zu dem Übungsflug. Der Eigentümer des Flugzeugs will den Flug als Passagier begleiten, um sein Wissen über das Muster zu vertiefen. Die geplante Route soll von Hamburg über Kiel-Holtenau führen mit Abschlusslandung in Rendsburg-Schachtholm. Auf dem Programm stehen spezielle Manöver wie Steep Turns und Slow Flight in 2000 Fuß, außerdem Anflüge und Landungen mit und ohne Landeklappen.

Übungsthema: langsamer Anflug

Am späten Nachmittag hat die Crew bereits einen großen Teil des Programms absolviert. Das Training sieht nun Landeanflüge in Rendsburg-Schachtholm und Itzehoe vor. Nach einer Landung in Rendsburg-Schachtholm um 16:40 Uhr und einem kurzen Aufenthalt dort startet die Kodiak, um weitere Platzrunden zu fliegen. Um 19 Uhr ist der Trainingsabschluss mit einer letzten Landung in Hamburg vorgesehen. Doch es kommt anders als geplant. Die Maschine startet um 17 Uhr von der Piste 21 und bleibt in der Platzrunde, um einen Anflug ohne Landeklappen und mit anschließendem Durchstartmanöver zu fliegen. Der Flugschüler soll den Anflug zudem bei extrem niedriger Geschwindigkeit durchführen. Ziel der Übung ist das schnelle Recovern zu einer sicheren Anfluggeschwindigkeit. Die Anweisung des Fluglehrers lautet, zuerst die Flugzeugnase nach unten zu drücken (pitch down to unload) und dann Startleistung zu setzen (set maximum power).

BFU

Recovery in geringer Höhe

Kurz darauf nähert sich die Kodiak im Endanflug der Piste 21. Der Flugschüler nimmt nun wie gebrieft die Geschwindigkeit zurück, bis die Stall-Warnung ertönt. Dann reduziert er den Anstellwinkel und schiebt den Gashebel wieder nach vorne auf maximale Leistung, um das Durchstartmanöver einzuleiten. Doch der Fluglehrer hat andere Pläne: Er schiebt den Leistungshebel erneut zurück und weist den Flugschüler an, das Recovery-Manöver nochmals durchzuführen. Zum zweiten Mal ist nun die Stall-Warnung zu hören. Der Flugschüler reagiert wie zuvor schnell: Er reduziert den Anstellwinkel und fährt den Leistungshebel nach vorn. Doch die Maschine sackt weiter durch, die Erhöhung der Triebwerksleistung zeigt nicht sofort Wirkung. Offenbar setzt der Leistungsschub erst nach kurzer Verzögerung ein. Die Fluglage ist jetzt schon kritisch. Der Fluglehrer versucht nun, die Maschine zu stabilisieren. Doch es gelingt ihm nicht mehr. Rund sieben Minuten nach dem letzten Startlauf kracht der Hochdecker auf eine Brachfläche vor der Schwelle zur Piste 21. Nach dem Aufschlag rutscht das Flugzeug noch etwa 70 Meter und kommt dann zum Stillstand.

BFU

Glück im Unglück – keine Todesopfer

Zwar hat sich der Fluglehrer bei der Bruchlandung leicht verletzt, die anderen beiden Insassen sind jedoch trotz des harten Aufpralls unverletzt und kommen mit dem Schrecken davon. Geistesgegenwärtig stellt der Pilot das Triebwerk nach der Havarie sofort ab. Auch die Brandhähne sind beim Eintreffen der Ersthelfer geschlossen. Alle Insassen können sich selbstständig aus dem Wrack befreien. Die Kodiak ist durch die Bruchlandung schwer beschädigt. Das Bugrad ist abgerissen, das linke Hauptfahrwerk abgeknickt. Entlang der Rutschstrecke sind zahlreiche Gegenstände aus dem aufgerissenen Gepäckfach herausgeschleudert worden. Starke Schäden sind außerdem an Tragfläche, Rumpf und an der Antriebseinheit festzustellen.

Keine Sicherheitsreserven

Bei der Untersuchung ergeben sich weder am Wrack noch bei der Datenanalyse Hinweise auf eine technische Störung als Unfallursache. Auch die Aussagen der Piloten deuten nicht auf ein technisches Problem hin. Die Ermittler der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) konzentrieren sich daher auf die spezifischen Verfahren, die bei dem Ausbildungsflug geübt werden sollten. Dazu stellt die BFU in ihrem Abschlussbericht fest, dass Langsamflug und Stall-Übungen "konservativ und in großen Flughöhen, unter Sicherstellung ausreichender Höhenreserven" erfolgen sollten, um anschließende Ausleit- und Abfangmanöver zu garantieren. Dies war bei dem Trainingsflug der Kodiak offensichtlich nicht der Fall.

BFU

Unnötiges Risiko eingehen – warum?

Die Ermittler betonen, dass ein Anflug ohne Landeklappen bei extrem niedriger Fahrt und eine Stall Recovery nicht Bestandteil der Ausbildung zum Erwerb der Klassenberechtigung seien. Der Fluglehrer hatte aber genau diese riskante Kombination von seinem Flugschüler verlangt. Möglicherweise habe er damit die Ausbildung für den Piloten interessant und fordernd gestalten wollen, so die Vermutung der BFU.

Auch die Tatsache, dass der Flugschüler – immerhin selbst ein erfahrener Fluglehrer und Berufspilot – der Anweisung nicht widersprach, kritisieren die Ermittler deutlich. Dieses gruppendynamische Phänomen führt immer wieder zu schweren Unfällen. Dabei hätten es die Piloten im Cockpit der Kodiak eigentlich besser wissen müssen.