Motorflieger legen bei ihren Flugzeugen in der Regel keinen besonders großen Wert auf gute Gleitleistungen. Man hat schließlich ein Triebwerk, das bis zum Ziel laufen soll. Umso mehr gilt: Auf den Motor muss Verlass sein. Wenn der aber versagt, dann sind gute Segelflugleistungen nicht mit Gold aufzuwiegen. Oft genug aber kennen Motorflugpiloten die Geschwindigkeit für das beste Gleiten und die genaue Sinkrate ihrer Maschine beim Flug ohne Antrieb überhaupt nicht.
Wenig vertraut mit der Gleitleistung seiner Einmot ist auch der Schweizer Pilot, der am 24. August 2016 von dem kleinen Flugplatz Neuchâtel in der Westschweiz zu einem Flug mit Zwischenstopp in Birrfeld im Aargau nach Samedan aufbrechen will. Sein Flugzeug des Typs HB 207Alfa von HBFlugtechnik ist ein Selbstbau. Die VariEze eines befreundeten Piloten begleitet die Alfa im losen Verbandsflug.

Albtraum in den Schweizer Alpen
Am frühen Nachmittag kommen beide Maschinen in Samedan im Engadin an. Dort tankt der Alfa-Pilot etwa 25 Liter Flugbenzin in die linke Fläche seiner Maschine. Nach rund 40 Minuten Aufenthalt rollen dieHB 207 und die VariEze zur Schwelle der Piste 03. Um 15:35 Uhr startet die HB 207 und folgt im Steigflug der östlichen Seite des Unterengadins. Querab von Zernez erreicht der Tiefdecker kurz darauf eine Höhe von 9700 Fuß AMSL. Über Susch dreht die Alfa nach Westen ab und folgt der Flüelapassstraße bis zum Flüelapass, den sie auf 9400 Fuß AMSL überfliegt. Dann kommt der Pilot in einem leichten Sinkflug in nordnordwestlicher Richtung ins Prättigau.
Kurz vor Schiers, auf einer Flughöhe von 6250 Fuß, wird aus dem traumhaften Flug durch die Hochgebirgslandschaft der Schweizer Alpen urplötzlich ein Albtraum: Um 16:02 Uhr hört der Alfa-Pilot ein beunruhigendes Geräusch. Es klingt hell-metallisch und kommt aus dem Motorraum. Die Drehzahl des VW-HB-2400 G/2 springt gleichzeitig auf etwa 5000 Umdrehungen. Zu diesem Zeitpunkt sind es noch 16 Kilometer zum Flugplatz Bad Ragaz. Der Pilot erkennt die Notlage schnell und steuert den Ausweichplatz an. Er schiebt den Gashebel zurück und bringt die Drehzahl auf 2500 bis 3000 Umdrehungen. Dann aber dreht der auf Reiseflug eingestellte Verstellpropeller im Leerlauf, das Triebwerk gibt jetzt keine Leistung mehr ab. Der Pilot muss die Geschwindigkeit auf 130 km/h reduzieren. Über die Frequenz 123,450 MHz informiert er seinen Begleiter in der VariEze über den Leistungsverlust und setzt einen Notruf ab. Dann meldet er sich nochmals über Funk und informiert den zweiten Piloten darüber, dass er den Flugplatz Bad Ragaz im Gleitflug ansteuere. Er bittet ihn, die bevorstehende Notlandung auf der Frequenz von Bad Ragaz anzumelden, damit die Piste von der Flugleitung freigehalten wird.

Zu hoch? Zu tief!
In den folgenden Minuten sinkt die Alfa mit einer durchschnittlichen Sinkgeschwindigkeit von 500 Fuß pro Minute. Der antriebslose Tiefdecker schießt dabei mit einer Geschwindigkeit von 160 bis 170 km/h durch das Unterengadin auf die Piste von Bad Ragaz zu. Überrascht stellt der Pilot fest, dass seine Maschine besser gleitet als erwartet. Etwa acht Kilometer vor der Schwelle des Ausweichplatzes meint er, dass er für einen direkten Anflug auf die Piste 30 zu hoch sei. Eine folgenreiche Fehleinschätzung, wie er später feststellen wird.

In 4200 Fuß fährt er Landeklappen und Fahrwerk aus, um schnell Höhe abzubauen. Der Tiefdecker sinkt jetzt mit 700 Fuß pro Minute, die Geschwindigkeit über Grund geht dabei von 170 auf 120 km/h zurück. Dreieinhalb Kilometer vor der Schwelle erkennt der Alfa-Pilot seinen Fehler. Zwar fährt er Klappen und Fahrwerk wieder ein, aber durch den Höhenverlust hat er nur noch 2600 Fuß unter sich. Die Schwelle ist im Gleitflug nicht mehr zu erreichen, obwohl er zu diesem Zeitpunkt mit der Geschwindigkeit für das beste Gleiten anfliegt. Um 16:10 Uhr fährt er erneut Landeklappen und Fahrwerk aus. Doch die Piste bleibt unerreichbar. Nur 250 Meter vor der Schwelle kracht die Maschine hart auf einen Acker. Propeller, Fahrwerk und Motorverkleidung werden bei der Bruchlandung schwer beschädigt. Der Pilot hat dagegen großes Glück und kann das Cockpit unverletzt verlassen.

Ermüdungsbruch an Sechskantschraube
Bei der Suche nach der Ursache für den Ausfall des modifizierten VW-Motors nehmen die Ermittler der schweizerischen Sicherheits-untersuchungsstelle (SUST) die ganze Antriebseinheit der HB 207 unter die Lupe. Dabei zeigt sich, dass ein Wartungsfehler zu einer Art Kettenreaktion unter der Motorhaube geführt hat. Die untere Sechskant-schraube SKS3 des Propellerträgers ist rechtwinklig zur Längsachse abgebrochen. Die Anordnung der Bruchlinien deutet auf einenErmüdungsbruch hin. Direkt neben der Sechskantschraube weist auch die Querstrebe des Propellerträgers entlang der Schweißnaht eine Bruchstelle auf. Eine rasterelektronenmikroskopische Untersuchung zeigt auch hier einen Ermüdungsbruch. Ebenso ist das Gewinde des hinteren Wellenträgers aufgrund extremen Verschleißes gebrochen.

Nach fest kommt ab
Bei Wartungsarbeiten waren offenbar die beiden oberen Sechskantschrauben des Propellerträgers, SKS1 und SKS2, mehrmals stark nachgezogen worden. Die Ermittler der SUST finden an den Auflageflächen am Motorblock deutliche Druckstellen der nachgezogenen Schrauben. Der Propellerträger war durch diesen Wartungsfehler über längere Zeit einer Wechselbelastung ausgesetzt. Die Befestigungspunkte wurden infolgedessen weit über ihre Dauerfestigkeit belastet. Das Nachziehen der Sechskantschrauben setzte den Propellerträger einer zusätzlichen Spannung aus und verdrehte ihn leicht. Dadurch veränderte sich die Ausrichtung der gesamten Propellerwelle und auch die der beiden Antriebszahnriemen zueinander. Die Folge: Zusätzlich zu den Ermüdungsbrüchen liefen die Riemen heiß und erreichten dabei Temperaturen bis zu 175 Grad Celsius. Unter dieser Belastung rissen sie schließlichab, und der Propeller drehte bei sprunghaft ansteigender Motordrehzahl im Leerlauf weiter.

SUST kritisiert unklare Wartungsvorgaben
Die Ermittler der schweizerischen Unfalluntersuchungsbehörde bewerten neben der „unzweckmäßigen Ausführung der Wartungs-arbeiten“ am Motor auch die „ungünstige Materialvorgabe“ für die Befestigung des Propellerträgers sowie nicht eindeutig definierten Wartungsvorgaben als ursächlich für den Triebwerksausfall. Vor allem die Anweisungen für das Ausrichten und Spannen der Zahnriemen des Propeller-Untersetzungsgetriebes seien unklar definiert gewesen, so die SUST-Ermittler. Abschließend heißt es in dem Untersuchungsbericht, eine „ungeeignete Flugtaktik“ habe zur Landung in ungünstigem Gelände geführt und den Schaden so vergrößert. Ohne Zweifel ist ein Gleitflug über eine derartige Distanz mit einem antriebslosen Motorflugzeug eine extreme Herausforderung – für jeden Piloten. Möglicherweise hatten aber schlicht der Stress und die Anspannung dazu geführt, dass der Unfallpilot ohne Not Höhe verschenkte.
Erneuter Unfall
Drei Jahre nach der Bruchlandung vor der Schwelle der Piste 30 von Bad Ragaz geriet er mit seiner inzwischen reparierten Maschine erneut in eine Notlage. Diesmal verlief der Unfall allerdings weniger glimpflich: Am 14. Mai 2019 verunglückte der Pilot mit seiner HB 207 Alfa tödlich.