Es gibt Gewissheiten in der norddeutschen Segelfliegerei, die kaum ein Pilot hinterfragt. Erstens: Im Sommer wird thermisch geflogen. Zweitens: Windwetterlagen für Hangaufwind und Wellen gibt es nur im Herbst oder Winter. Mitunter ist der eifrige Student der Segelflug-Wissenschaften allerdings gezwungen, als Fakten kolportierte Theorien zu überprüfen. So erging es auch mir an einem meteorologisch interessanten Tag im Juli.
Der Sommer war bis dato warm und ziemlich trocken. Für Samstag, den 15. Juli, ist eine Kaltfront vorhergesagt, die im Laufe des Tages und der Nacht durchziehen soll. Auf deren Rückseite ist dann, typisch für diese Wetterlagen, Wind angekündigt. Mit bis zu 20 Knoten in 100 Meter AGL herrscht dafür, dass gerade Sommer ist, sehr viel Wind. In größeren Höhen soll es mit 50 Knoten und mehr sogar richtig heftig werden. Diese Vorhersage triggert den Wissenschaftler in mir. Zeit für Experimente! Gemeinsam mit meinem Vereinskameraden Dennis Polej berate ich mich am Samstagabend über die Potenziale des folgenden Tages. Dennis will mit dem Vereins-Arcus mit Motorkraft in Richtung Ith und Porta fliegen, um dort am Hang eine schnelle Runde für die Liga zu absolvieren. Ich hingegen habe andere Pläne und überlege, mit der Stemme im Harz zu untersuchen, ob das Gebirge auch im Sommer Wellen produziert, die sich fliegerisch nutzen lassen. Treffen um sieben Uhr am Flugplatz, Startbereitschaft eine Stunde später.
Stemme als Expeditionsschiff
Mit der Stemme als Expeditionsschiff kann man solche Sachen wunderbar ausprobieren, denke ich mir, als ich das Flugzeug aus der Halle ziehe und die Flügel montiere. Auch Dennis und sein Co-Pilot Nicolas Trautmann bereiten den Arcus vor. Kurz nach acht Uhr verlässt die Stemme den Boden mit Kurs auf die Harzkante zwischen Wernigerode und Ilsenburg, wo die Harzwelle üblicherweise steht. Dennis und Nicolas starten kurz vor neun.
Was dann kommt, überrascht mich trotz meiner Vorahnung dann doch. Exakt an der erwarteten Stelle nördlich des Brockens finde ich den Einstieg in die Welle. Das Steigen ist zwar nicht sonderlich stark, aber dafür kon-stant. Es dauert nicht lange, und ich kann mir den Harz und die Wolken unter mir aus der Höhe anschauen – an dieser Stelle ein Dankeschön an die Kollegin der DFS, die mir problemlos eine Einzelfreigabe für das Steigen über FL100 gegeben hat.

Jacke gefällig? Nö. Dank großer Haube und Sonne bleibt es selbst weit oben warm.
In Flight Level 150 muss ich den Aufstieg kurz unterbrechen, um ein anderes Flugzeug über den Harz passieren zu lassen. Danach finde ich die Welle an der erwarteten Stelle zunächst nicht wieder, und ich vermute, dass der Wind zugenommen und die Welle verschoben hat. Über Wernigerode zeigt die Variometernadel wieder Steigen an, und mit erneuter Freigabe der DFS geht es weiter nach oben bis Flight Level 171, immerhin 5200 Meter MSL.
Für mich als bekennenden Kurzhosen- und Barfußflieger ist besonders angenehm, dass die Nullgradgrenze an diesem Tag bei mehr als 3000 Metern liegt und die Sonne hoch am Himmel steht, was selbst in diesen Höhen für Behaglichkeit im Cockpit sorgt. Frieren muss ich jedenfalls nicht und kann Jacke und
Weste, die ich zur Sicherheit dabei habe, im Gepäckfach lassen. Auch hier kann es mein Forscherhirn nicht lassen, sich Gedanken zu den Hintergründen zu machen. Dank der großen Haube der Stemme sitzt man wie im Wintergarten. Ich überschlage grob: Haubenfläche von rund 1,5 Quadratmetern senkrecht zur Sonne, das macht bei 1000 Watt pro Quadratmeter 1,5 Kilowatt an Heizleistung. Da macht ein handelsüblicher Heizlüfter auch nicht mehr. Merke: Hoch fliegen, wenn die Sonne scheint!
Gegen Mittag wird das Steigen in der Welle wie erwartet schwächer, da die Thermik inzwischen zu stark angestiegen ist. Das nehme ich zum Anlass, wieder abzusteigen und mich auf den Heimweg Richtung Wilsche zu begeben. Doch damit soll der wirklich interessante Teil dieses Tages erst beginnen. Mehr dazu gleich …
Arcus-Crew im Hangaufwind
Dennis und Nicolas haben nach ihrem Start mit dem Arcus in Richtung Ith leichtes Spiel, denn entgegen den sonst meist herrschenden Winden, die reichlich Motorlaufzeit bedingen, kommen sie mit wenig Motoreinsatz aus. Wegen der frischen Rückseite ist die Thermik früh erwacht. "Erstaunlicherweise ging es bereits ab Hildesheim mit Reihungen thermisch zum Ith, sodass wir mit wenig Motorlaufzeit für die 80 Kilometer zum Hang gegen den strammen Südwestwind vorankamen. Der Hang ging wie erwartet gut", fasst Dennis den Hinflug bei der späteren Auswertung zusammen.
Das eigentliche Ziel der beiden besteht zunächst darin, im starken Hangwind einen schnellen Liga-Flug zu absolvieren. "Den ersten Liga-Versuch mussten wir mangels Thermik am Süntel nördlich von Hameln abbrechen und erneut Richtung Lübbecke fliegen. Die anschließenden zwei Stunden am Hang ermöglichten uns einen Liga-Schnitt von mehr als 140 Kilometer pro Stunde, womit wir eigentlich schon zufrieden waren. Dank der Thermik zwischendurch ging der Sprung vom Süntel zum Ith deutlich entspannter als bei mancher Herbstwetterlage, bei der wir sonst dort unterwegs sind."
Angesichts der frühen und starken Thermik kommt auch Dennis auf die Idee, dass mehr als nur Hangwind und Wellen zu guten Flügen führen können. "Per Live-Tracking und WhatsApp haben wir dann schnell rausbekommen, dass die Wolkenstraßen im Norden wohl noch höhere Schnitte als am Hang ermöglichen würden. Nachdem wir uns bei Bad Gandersheim ausgegraben hatten, wählten wir die erste Wolkenstraße, die dank der Kaltluft selbst durch das Harzvorland super ging, ohne kurbeln zu müssen."
Ab dem Moment ist den beiden Arcus-Jockeys klar, dass an diesem Tag mehr zu holen ist. "Schnell haben wir überschlagen, dass wir etwa bis zur Ostsee fliegen müssen, wenn wir die 1000 Kilometer knacken wollen. Allerdings wurde uns auch klar, dass dann nicht mehr genug Schenkel übrig waren und die Strecke Lübbecke – Süntel von unserem ersten Liga-Versuch nicht gewertet werden würde. Das galt es bei der Planung zu berücksichtigen."
Meteorologisches Phänomen
Zurück ins Cockpit der Stemme. Bis zum Zeitpunkt meiner Umkehr Richtung Wilsche bedeuten die ersten vier Stunden des Tages mit der Harzwelle für mich schon ein Erfolg. Aus Flight Level 95 ist es kein Problem, bis nach Wilsche zu kommen, und wie ich so dahingleite, fällt mir auf, dass die Thermikwolken an ihren Oberseiten ab und an verblasen wirken und auf der Luvseite viel Bewegung drin ist. Zudem bilden sich immer wieder größere Wolkenlücken, die auf der Leeseite umso höhere Tops haben. Das wundert mich dann doch, und es scheint, dass über der Thermikbewölkung auch noch Leben in der Atmosphäre ist.
Meine Neugierde ist einfach zu groß, und ich ändere den Kurs, um herauszufinden, was da los ist. Und tatsächlich: Auf der Luvseite der großen Wolken steigt die Stemme! Offenbar gibt es hier an der Inversion eine deutliche Windzunahme. In der thermischen Schicht waren nur rund 35 Kilometer pro Stunde angesagt. In Flight Level 85 zeigt der Logger aber schon Wind mit mehr als 60 Stunden-kilometer an. Eine deutliche Windscherung ist hier offenbar Ursache für die Entstehung von Wellen an den Wolken. Nach ihren Entdeckern wird diese Erscheinung Kelvin-Helmholz-Instabilität genannt. Sie beschreibt, was passiert, wenn zwei aneinander vorbei gleitende Fluide instabil werden. Diese meteorologische Eigenheit konnte ich schon häufiger auf dem Heimweg nutzen, um über den Wolken nach Wilsche zu kommen. Typisch dabei ist, dass das Steigen zum einen nur bis zu einer gewissen Höhe geht und zum anderen mit der Strömung versetzt wird. Das lässt sich auch auf der Loggerspur in WeGlide gut erkennen.

Angesichts der Wolkenerscheinungen liegt es für Martin Pohl nahe, auf dem Flug mit der Stemme eine Kelvin-Helmholtz-Welle erlebt zu haben.
Die Steigwerte betragen an diesem Tag bis zu zwei Meter pro Sekunde, Die maximal erreichbare Höhe beträgt rund 2700 Meter MSL. Interessanterweise sind die stärksten Steigwerte nicht an den großen Wolken zu finden, sondern an kleinen Flusen. Immer dann, wenn plötzlich ein im Wesentlichen senkrecht nach oben ragender, oben etwas verblasener Flusen im Blauen zu erkennen ist, der da irgendwie nicht hinpasst, geht es nach oben. Der Flusen wirkt so, als ob ihn eine Kelvin-Helmholtz-Welle aus der feuchten thermischen Schicht herausgerissen hätte, sodass sich dann zerrupft aussehende Kondensationen bilden.
Diese Aufwindsysteme kann ich auf dem gesamten Flug vom Harz bis nach Gifhorn immer wieder nutzen und bleibe stets über den Wolken. Erst nach dem neunten Aufwind ist meine Neugier gesättigt. Etwas ähnliches habe ich in den Alpen schon einmal erlebt und in Scherungswellen an Höhe gewonnen, jedoch noch nie hier im Flachland. Der letzte Versuch, mich in die Welle zu klinken, geht daneben, und eine Stunde später bin ich wieder am Boden. Damit geht einer der meteorologisch interessantesten Flüge, die ich je unternommen habe, zu Ende.
Unter Wolkenautobahnen
Für die Arcus-Crew funktioniert das Wolkenstraßenrennen besser, als die beiden anfangs zu hoffen wagten. In kurzer Zeit sind sie in Mecklenburg und die klare Luft bietet weiterhin schöne Aussichten und knackige Steigwerte auf Kurs. Während es hier üblicherweise immer noch gut geht, ist das letzte Stück an die Küste immer etwas schwierig. "Feuchte Böden und der Einfluss des nahen Meeres machen die Flüge hier meist deutlich langsamer. Der starke Südwestwind mit der labilen Luftmasse sorgte aber dafür, dass weder Feuchte noch der Einfluss der Meeresluft an diesem Tag störten. So blieb der Schnitt bis an die Küste hoch", kommentiert Dennis zufrieden. Als die Entscheidung zur Wende fällt, sind es fast 300 Kilometer Strecke bis nach Hause – mit 30 Stundenkilometern Wind auf der Nase. Die Wolkenstraßen aber halten, was sie versprechen, sodass das Duo zügig vorankommt. Bei etwa 850 Kilometern ist es Zeit für ein Selfie – zufriedenes Grinsen im Cockpit.

Der Arcus über der Müritz.
Eine Herausforderung deutet sich aber an: Für einen reinen Segelflug ist es schon reichlich spät und die Thermik beginnt abzubauen. "Um die 1000 zu knacken, mussten wir über den Flugplatz Wilsche hinausgleiten. Unter den letzten Wolken gab es gegen 19 Uhr nur noch schwaches Steigen. Daher mussten wir, um wieder in Wilsche landen zu können, das Klapptriebwerk benutzen. Die auf dem Hinflug gesparten Motorminuten kamen also nun zum Einsatz" begründet Dennis die pragmatische Entscheidung.

Unter Wolkenautobahnen.
Am Ende des Tages herrscht Einigkeit zwischen Arcus-Crew und Stemme-Pilot: Diese beiden Flüge an ein- und demselben Tag sprechen eindeutig für die Besonderheit der Wetterlage. So etwas erlebt man für sich schon selten, beide Bedingungen an einem Tag sind schon eher unter Sensation einzuordnen. Es hat einfach alles gepasst: Wetter, Flugzeug, Zeit – und Flugleiter Arne Rohlfs, der bei den Vorbereitungen unterstützt und die beiden Flieger vor dem eigentlichen Flugbetrieb des Vereins aus dem Platz gelassen hat.