Schon Tage im Voraus war klar: Da bahnt sich was Großes an. Die Prognosekarten zeigen labil geschichtete Luftmassen, hohe Basis und starke Einstrahlung. Wer fliegen kann, der fliegt. Andreas Hüttlinger muss auf den Feiertag warten, aber bereits Ende April "metert" es vom Feinsten, und die Tausender purzeln nur so. Der freie Tag kommt zur rechten Zeit – ein Bonus-Tag im Kalender, an dem die Thermik mit einem Glanzstück brilliert. Mehr als 20 Flüge über die magische Distanz allein in den Alpen – für Andreas ist es die beste Wetterlage, die er je Anfang Mai erlebt hat. Und immerhin fliegt er schon einige Jahre und hat 3500 Stunden geschrubbt.
Klar, in diesen Tagen "vierstellig" unterwegs zu sein ist per se kein Alleinstellungsmerkmal, aber es kommt auf die Details an. Und hier wird es spannend. Denn Andreas geht mit einer litauischen MiniLAK FES an den Start, einem wendigen 13,5-m-Segler, der aufgrund des größeren Eigensinkens bezüglich der Steigleistung kaum mit den üblichen Mustern mithalten kann. Auch die Gleitzahl ist mit 39 eher bescheiden, da hat mancher alte Clubklasse-Renner mehr zu bieten. Wenn damit trotzdem ein Tausender gelingen soll, braucht es neben Wettererfahrung einen bestens vorbereiteten Flug.
Angemeldet ist ein 825-km-FAI-Viereck. Als Abflug wird der Hirschberg im Ostrachtal gewählt, die Startlinie liegt im Ammergebirge. Danach soll es über die erste Wende östlich von Admont, die Lienzer Dolomiten und schließlich zur dritten Wende bei Tiefencastel in der Schweiz gehen. Und am Ende könnten bestenfalls sogar 1000 Kilometer auf dem Logger stehen ...

Andreas Hüttlinger im Cockpit seiner MiniLAK FES-
Zwischen Guffert und Dachstein – Volldampf auf dem ersten Schenkel
Der Einstieg ins Ammergebirge verläuft unspektakulär – zumindest fliegerisch. Dann aber: ein satter Drei-Meter-Aufwind bei Garmisch katapultiert Andreas auf komfortable 2800 Meter. Das Karwendel läuft danach wie am Schnürchen, und auch der Sprung zum Achensee gelingt mühelos.
An der Guffertspitze allerdings das erste kurze Zittern: Die dort sonst eher zuverlässigen Fahrstühle in den zweiten Stock machen eine Betriebspause. Statt Power gibt es nur etwas über 1 m/s Steigen. Andreas bleibt cool, trifft die richtige Entscheidung und zieht nach wenigen Kreisen weiter.
Am Veitsberg dann die Erlösung: Nach einer kurzen Suchschleife steht der Bart, der die rettende Höhe für den Sprung zum Wilden Kaiser bringt. Ab hier läuft der Flug in einem Flow, wie man ihn sich kaum besser wünschen kann: über das Steinerne Meer, den Dachstein, hinein ins Tote Gebirge. Die Basis hebt an, die Steigwerte auch – mit 4 m/s auf mehr als 3100 Meter. Es geht nicht nur höher, sondern auch schneller und schneller. Die MiniLAK marschiert zwischen den satten Cumuli mit 160 bis 170 km/h vorwärts. Da ist das Fliegerchen tatsächlich am Limit für diese Bedingungen angekommen, denn mehr als Manövergeschwindigkeit will Andreas dem Flugzeug in dieser rauen Luft nicht zumuten. Die Thermik steht zuverlässig, die Linie passt, es läuft schneller und schneller – bis die letzte Stunde des ersten Schenkels in einem satten 122er-Schnitt gipfelt.

Bei Top-Bedingungen am markanten Berg Grimming vorbei.
Rhythmus verloren – und wiedergefunden
Schon vor der ersten Wende ist klar: Der Flug wird größer als geplant. Die Bedingungen sind zu gut, um stur auf Linie zu bleiben. Andreas verlängert den Flug über die geplante Wende hinaus, mit dem Ziel, aus den angesetzten 825 Kilometern mehr herauszuholen.
Doch auf dem zweiten Schenkel wird es zunächst zäh. Zwischen Trieben und Mauterndorf, bei der Querung des Alpenhauptkamms, verliert er kurz den Takt. Lokal drehen Winde auf und machen ihr eigenes Ding, starke Lees gehen nicht gerade zimperlich mit ihm um, und die Thermik wird launisch. Manch erhoffter Ablösepunkt tut nicht, was er soll. Nach Mauterndorf wird es besser: Anschluss ans höhere Gelände, zuverlässigere Steigwerte. Der Rhythmus stellt sich wieder ein. Ab hier läuft es wieder rund, und mit zunehmendem Tempo geht es weiter zur zweiten Wende am Rand der Lienzer Dolomiten.
Kurze Zeit später, nördlich von Brixen, passiert etwas Besonders: Andreas trifft zufällig Uroš Bergant, er ist ebenfalls mit einer MiniLAK unterwegs. Der slowenische Pilot fliegt regelmäßig beeindruckende Strecken von Lesce aus. Zwei dieser seltenen Flugzeuge gemeinsam im gleichen Aufwind – ein ungewöhnliches Bild. Für einen Moment wird aus dem Soloflug ein leiser Formationsflug.
Bei Sterzing kurbelt Andreas die MiniLAK easy auf 3950 Meter – hoch genug, um das Wipptal zu queren und locker ins Ötztal überzusetzen. Im Engadin trifft er dann auf fast schon alpine Luxusbedingungen: bis zu 4200 Meter Basis, satte Steigwerte. Kurz nach halb sechs erreicht der Pilot die letzte Wende seiner angemeldeten Aufgabe. Nur noch 115 Kilometer bis ins Ziel.

Über dem Unterengadin.
Eigentlich könnte man jetzt entspannt heimfliegen. Doch Andreas ahnt: Wenn die Thermik noch hält und kein Fehler passiert, dann sind 1000 Kilometer in Reichweite! Also dreht er nach Westen ab – nicht auf Sicherheitskurs, sondern auf persönliche Rekordjagd.
Der Nervenkitzel folgt auf dem Fuß. Am Piz Curvér lockt zwar eine schöne Wolke, doch das Steigen lässt sich nicht sofort finden. Anstatt Zeit zu verlieren, fliegt er weiter, in der Hoffnung, dass die Fahrstühle nicht ganz ihre Arbeit einstellen. Am Piz Beverin sieht es zunächst vielversprechend aus: optimal angestrahlte Hänge, Sonne und Wind von der richtigen Seite. Doch Andreas kommt unterhalb der Gipfelhöhe an, und die Aufwinde sind zu schwach, um sie sinnvoll zu nutzen.
Vorsichtig geht der Blick weiter nach Westen. Es muss eine Alternative geben. Er nimmt den nächsten Grat zwischen Crap Grisch und Piz Fess ins Visier, allerdings nicht vollends überzeugt. Der liegt ideal in der Sonne. Doch der Weg dorthin führt durchs Lee. Und wenn das zu stark ausfällt, wird’s brenzlig, erkennt Andreas. Die Nerven sind angespannt. Er geht auf das beste Gleiten – langsam, effizient, still hoffend.

Den Reschensee - bekannt durch den aus dem Wasser ragenden Kirchturm des überfluteten Dorfes Alt-Graun - passiert Andreas Hüttlinger zweimal.
Finale mit Gänsehaut und der Sonne im Rücken
Für den Abend gilt ein ungeschriebenes Gesetz im Gebirge: Höhe ist alles! Würde er jetzt umdrehen müssen, bliebe nur der Rückflug durchs Tal – zu tief, zu langsam, zu spät. Wenn die Thermik abends kippt, ist jede Minute kostbar. Doch es funktioniert. Die MiniLAK trägt ihn gerade hoch genug, um westlich des Crap Grisch wieder aufzudrehen. Zwar sind die Bärte nicht allzu stark, aber immerhin stabil genug, um nicht abzusaufen.
Andreas gleitet an der Gratkante nach Norden, tastet sich entlang einer tragenden Linie. Die Aufwinde sind spürbar schwächer geworden, das Zeitfenster beginnt sich zu schließen. Die rettende Höhe kommt erst am Piz Curvér. An dessen Ausläufern schraubt er sich noch einmal 750 Meter nach oben. Endlich: Er ist wieder im Spiel!

Auf Kurs Richtung 1000-Kilometer-Marke.
Der Rückflug führt südöstlich von Davos an kleinen Schauern vorbei. In langsam abklingender Thermik geht es zurück Richtung Osten. Kurz vor halb acht hebt ihn ein letzter Aufwind im Kaunertal auf 3700 Meter – genug für den finalen Schenkel. Aber nein, noch ein paar Kilometer will er weiter nach Osten fliegen, dann ist er sich sicher: Die Tausend werden voll.
Dann endlich der Kurswechsel, die Nase zeigt Richtung Heimat nach Agathazell. In der goldenen Abendstimmung genießt Andreas erleichtert einen entspannten Endanflug. Beim Queren des Inntals meldet der Rechner: weniger als eine Stunde bis Sonnenuntergang. Er muss schmunzeln. Was für ein Tag! Der dritte Flug der Saison wird für ihn nicht ein Aufwärmer, sondern ein persönlicher Rekord!

Zuhause. Und im die Erkenntnis reicher, dass es für große Strecken nicht immer ein Langohr oder ein 18-Meter-Renner sein muss.