Dunkelgrün und durchaus etwas bedrohlich wirkt das Wasser der Donau an dieser Stelle selbst an einem sonnigen Tag wie heute. Das mag aber auch mit der Höhe zusammenhängen: Rund 20 Meter ragt er in die Luft, der Berblinger-Turm mit seiner schwankenden Spitze. So hoch (aber wahrscheinlich nicht halb so wackelig) wie das Gerüst, von dem er damals an dieser Stelle gesprungen ist, der Schneider Albrecht Ludwig Berblinger. Unten im Fluss ziehen ein paar Ruderer vorbei, durch die Trauerweide am Ufer weht der Wind. Eine Schulklasse kommt des Weges. "Hier ist er 1811 ins Wasser gefallen, der "Schneider von Ulm‘", hört man die Stadtführerin erzählen. "Und danach ertrunken in Hohn und Spott." Die meisten Schüler hören gar nicht richtig hin. Wen interessiert schon eine Geschichte über einen gescheiterten Flugpionier, die mehr als 200 Jahre zurückliegt?

Die Gedenktafel hängt am Münsterplatz - dort, wo Berblinger seine Werkstatt hatte.
Ist er geflogen – 80 Jahre vor Lilienthal?
Aber ist er überhaupt gescheitert? Oder ist er vielleicht doch geflogen, schon 80 Jahre vor Otto Lilienthal? Immerhin soll es seinerzeit Augenzeugen gegeben haben, die den Schneider in den Wochen und Monaten vor seinem unglückseligen Sprung haben fliegen sehen, und zwar am kleinen Ulmer Michelsberg. Hat man ihm für seine öffentliche Vorführung vor Tausenden von Zuschauern – darunter auch Mitglieder der Königsfamilie und andere illustre Gäste – vielleicht einfach nur einen sehr ungünstigen Startplatz (und noch dazu in einem schlechten Moment) zugewiesen? Man weiß es nicht. Das Problem: Über Albrecht Ludwig Berblinger, besser bekannt als "Schneider von Ulm", wurde schrecklich viel geschrieben, geredet – und vor allem gelacht. Keiner der deutschen Flugpioniere vor Otto Lilienthal (und die gab es durchaus!) ist auch nur annähernd so bekannt wie Berblinger.

Der Blick von unten vermittelt einen Eindruck von den Dimensionen der Flügel.
Zum Unglücksflug gezwungen?
Fast 100 Jahre lang waren es vor allem Spottverse, die über den Schneider zu Papier gebracht wurden und ihn zu einer reinen Witzfigur abstempelten. Erst der Ingenieur und Schriftsteller Max Eyth – in unmittelbarer Nähe des Berblinger-Turms steht ein Denkmal – befasste sich mit der tragischen Figur des Schneidermeisters ein wenig differenzierter. Sein opulenter Roman "Der Schneider von Ulm" aus dem Jahr 1906 hat mit der wirklichen Lebensgeschichte Berblingers allerdings wenig zu tun. Das hat der Autor seinerzeit selbst eingeräumt. Auf den Flugapparat geht Eyth in seinem Buch kaum ein, von einem Gleiter ist jedenfalls an keiner Stelle die Rede. In den meisten späteren Werken hingegen – die Geschichte des Schneiders wurde 1978 verfilmt, es gab Hörspiele, Theaterstücke und noch einige weitere Bücher und Publikationen – scheint auf einmal ganz klar zu sein: Berblinger hatte einen Gleiter gebaut und war damit am Michelsberg, damals noch ein aufgegebener Weinberg ohne Wohnhäuser und große Bäume, von kleinen Mauern und flachen Gartenhausdächern gesprungen und gesegelt.

Der Schneider fliegt einem in Ulm überall über den Weg - hier als Sonnenschutz.
Keine Aufzeichnungen hinterlassen – Faktenfindung bleibt schwierig
Und dann wurde er von der geltungssüchtigen Ulmer Obrigkeit gewissermaßen dazu gezwungen, seine Flugkunst unter denkbar schlechten Bedingungen an der berühmten Adlerbastei im Schatten des Ulmer Münsters unter Beweis zu stellen – und zwar just an jenem Tag, für den der König Friedrich I. von Württemberg angekündigt hatte, die Stadt zu besuchen. War es tatsächlich so? Oder haben wir’s hier mit einem klassischen Fall von Verklärung zu tun? Fakt ist wohl, dass heute niemand mit absoluter Sicherheit sagen kann, ob Berblingers Maschine wie die meisten vermeintlichen "Flugzeuge" jener Zeit als Flügelschlagapparat oder als Gleiter konzipiert war. Mit letzterem wäre der Schneider wirklich fortschrittlich gewesen. Das wiederum liegt vor allem daran, dass der Flugpionier selbst keinerlei Konstruktionspläne veröffentlichte oder gar hinterließ. Vor seinem Versuch wollte er sich verständlicherweise nicht in die Karten schauen lassen, danach war wohl niemand mehr daran interessiert.

Im Rathaus hängt ein Nachbau von Berblingers Gleiter, angefertigt nach dem Stich von Johannes Hans.
Einzig ein Kupferstich dokumentiert die Arbeit
Die einzige detaillierte zeitgenössische Darstellung des Flugapparats, die fälschlicherweise immer wieder und allerorten als Berblingers "eigenhändige" Zeichnung bezeichnet wird, stammt von einem Zeitgenossen und Mitbürger Berblingers, vom Maler und Kupferstecher Johannes Hans. Der scheint sich dabei aber vor allem an den Entwürfen des Wiener Uhrmachers und Flugpioniers Jacob Degen von 1807 orientiert zu haben. Sein Stich ist fast die Kopie einer damals europaweit bekannten Zeichnung von Degens Maschine. Letztere wiederum war ein lupenreiner Flügelschlagapparat. Im 1986 erschienenen Buch "Der Schneider von Ulm – Fiktion und Wirklichkeit" wird der Versuch unternommen, das zu erklären: Berblinger, so heißt es dort sinngemäß, sei über die Versuche Degens im Bilde gewesen (zwischen den Donau-Städten Ulm und Wien herrschte immer ein reger Austausch) und habe sicher auch einige technische Innovationen des Wieners, zum Beispiel die sinnige Größe und Form der Flügel, übernommen. Wer etwas genauer hinschaut, sieht allerdings auch die Unterschiede: So fehlen dem Berblinger-Apparat zumindest auf dem Stich von Johannes Hans die Vorrichtungen zum Heben und Senken der Flügel. Mögliche Schlussfolgerung: Berblingers Apparat war ein Gleiter. Kann sein, muss aber nicht.

Berblingers Maschine hatte im Gegensatz zum Apparat von Jacob Dege keine Vorrichtung zum Heben und Senken der Flügel - jedenfalls nicht auf diesem Stich von Johannes Hans.
Ein begnadeter Tüftler
Zurück zu den wenigen Tatsachen: Albrecht Ludwig Berblinger hatte sich in der einst bedeutenden Stadt Ulm trotz schwieriger Kindheit zu einem ehrbaren Mann hochgearbeitet. Er war nicht nur als hervorragender Schneider bekannt, der schon mit 21 Jahren zum Meister ernannt worden war, sondern auch als begnadeter Mechaniker und versierter Tüftler. So hatte er für die vielen beinamputierten Soldaten seiner Heimat eine "Fußmaschine" mit Streckgelenken und künstlichen Sehnen erfunden, eine Prothese, deren Funktionstüchtigkeit in Ulm und darüber hinaus von vielen gelobt wurde. Als Träumer oder Scharlatan war dieser versierte und verdiente Mann also beileibe nicht verschrien.
Zeitungsanzeige über Erfindung einer Flugmaschine
Am 24. April 1811, rund fünf Wochen vor seinem öffentlichen Versuch, schaltete Albrecht Ludwig Berblinger in der "Schwäbischen Chronik" eine Art Anzeige, die heute als eines der ganz wenigen zeitgenössischen Schriftstücke im Zusammenhang mit dem Schneider von Ulm gilt. Der Wortlaut: "Nach einer unsäglichen Mühe in der Zeit mehrerer Monate, mit Aufopferung einer sehr beträchtlichen Geldsumme und mit Anwendung eines rastlosen Studiums der Mechanik, hat der Unterzeichnete es dahin gebracht, eine Flugmaschine zu erfinden, mit der er in einigen Tagen hier in Ulm seinen ersten Versuch machen wird, an dessen Gelingen er, bestärkt durch die Stimme mehrerer Kunstverständiger, nicht im Geringsten zweifeln zu dürfen glaubt. Von heute an ist die Maschine bis an den Tag des Versuchs, der nebst der Stunde in diesen Blättern vorher genau angezeigt werden wird, hier im Saale des Gasthofs Zum goldenen Kreuz jedem zur Ansicht und zur Prüfung ausgestellt. – Berblinger"

Beim Stadtrundgang ist der Pionier immer präsent. Eine Berblingerstraße gibt es in Ulm natürlich auch.
Viele ungeklärte Fragen
War es wirklich "sein erster Versuch"? Ist es wirklich anzunehmen, dass dieser kluge und vorsichtige Mann sich eines Tages aus einer Laune heraus ein paar Flügel an die Arme schnallt, um sich – ohne vorangegangene Tests – vor einem großen Publikum, einschließlich König, lächerlich zu machen? Und hätten die Herren vom Ulmer Rat dem Schneider ohne erfolgreiche Vorversuche überhaupt einen Auftritt vorm König gewährt? In der Gefahr, die ganze Stadt zu blamieren? Sehr unwahrscheinlich. Und wer, bitteschön, waren die "Kunstverständigen", die ihn so positiv bestärkten? Man wird es wohl nicht mehr herausfinden. Genauso wenig lässt sich die Frage beantworten, ob vielleicht auch Kupferstecher Johannes Hans auf der Ausstellung im Gasthof zugegen war und sich so zumindest eine Vorlage für seinen Stich holen konnte. Möglich wär’s ...
Freiwilliger Startplatz oder gezwungen durch Stadt und König?
Letztlich kann auch niemand mehr mit Sicherheit sagen, ob Berblinger die Adlerbastei als Startplatz aus freien Stücken wählte oder ob er wirklich dazu gedrängt wurde. Einige sagen, er habe ursprünglich vom damals 100 Meter hohen Turm des Münsters springen wollen. Bei allem, was man über den Schneider weiß, erscheint das aber nicht sehr wahrscheinlich. Die plausibelste Erklärung für den Startplatz Adlerbastei: Man wollte dem schwer übergewichtigen König den Weg auf den Michelsberg ersparen. Außerdem sollte das erhoffte epochale Ereignis gefälligst vor Tausenden von Zuschauern im Herzen der guten Stadt Ulm stattfinden.

Blick vom Michelsberg auf die Stadt. Womöglich ist Berblinger hier geflogen.
Donauüberquerung wäre auch heute keine leichte Aufgabe
Am 30. Mai 1811 nahm das Schicksal seinen Lauf. Das Datum ist tatsächlich bekannt, der genaue Ablauf hingegen ist wohl wieder nur eine Mischung aus Augenzeugenberichten, Fantasie, Spekulation und Geschichtsklitterung. In der "Schwäbischen Chronik" der Tage und Wochen danach ist kurioserweise so gut wie nichts über den Flugversuch zu finden. Möglicherweise war man darauf bedacht, den Moment der Ulmer Blamage, von dem man sich doch eigentlich eine so gute "Publicity" erhofft hatte, gleich wieder vergessen zu machen. Um die Donau überqueren zu können, hatte Berblinger die Absprunghöhe durch ein provisorisches Gerüst auf 20 Meter erhöhen lassen. Die angekündigte Abreise des Königs am 31. Mai hatte wohl dazu geführt, dass der Schneider sich nun schon am 30. Mai auf seiner Startrampe befand. Er verschob den Start aber trotz des wartenden Königs auf den nächsten Tag. Hatte er die völlig anderen Windverhältnisse am Donauufer bemerkt und hoffte nun auf Veränderung am nächsten Tag? Heute ist klar, warum er keinen Auftrieb spüren konnte: Durch das relativ kalte Wasser der Donau entstehen selbst an warmen Tagen Fallwinde, durch die Mauern der Bastei noch zusätzliche Verwirbelungen. Unter solchen Umständen wäre ein Gleitflug bis zum anderen Ufer selbst heute noch eine Herausforderung, wie diverse Versuche Ende des 20. Jahrhunderts übrigens bestätigten.

Wo heute der Turm steht, ist Berblinger damals von einer Plattform gesprungen.
Ungünstige Bedingungen
Am nächsten Tag, dem 31. Mai, trat Berblinger erneut zu einem öffentlichen Flugversuch an. Der König war abgereist, aber sein Bruder, Herzog Heinrich, und die Prinzen schauten zu. Die Windverhältnisse hatten sich leider nicht verändert. Das muss Berblinger bewusst geworden sein, denn er verzögerte den für 16 Uhr geplanten Start erneut – in der Hoffnung, es könnte sich noch etwas ändern. Zeitgenossen berichteten von tänzelnden und wedelnden Bewegungen Berblingers, die ein Indiz dafür sein könnten, dass er vergeblich nach dem Auftrieb suchte, den er vom Michelsberg kannte. Gegen 17 Uhr wurden die zahlreichen Zuschauer und auch Herzog Heinrich ungeduldig und drängten den Schneider, endlich mit seiner Vorführung zu beginnen. Ein umstehender Polizeidiener (Achtung, Verklärungsgefahr!) soll ihn schließlich angerempelt oder von der Rampe geschubst haben. Das Verhängnis nahm seinen Lauf.
Keine Chance auf Erfolg
Selbst wenn die Bedingungen perfekt gewesen wären: "Aus diesem Überraschungsmoment heraus konnte er die erforderliche Anfangsgeschwindigkeit für den Gleitflug nicht erreichen und die Tragflächen seines Fluggerätes in keinem günstigen Anstellwinkel ausrichten. Dazu noch die Fallwinde und der Start mit Rückenwind – all das bescherte dem Traum vom Fliegen ein jähes Ende. Bereitstehende Fischer retteten ihn nach dem Absturz unter dem Gejohle der vielen Zuschauer aus den Fluten der Donau", heißt es sinngemäß auf Wikipedia, einem Medium, das in puncto Schneider von Ulm leider ebenfalls viele belegte Tatsachen mit mündlicher Überlieferung und möglicherweise auch mit Fantasie vermischt.
Es folgte der Absturz in die Armut
Der Schneider jedenfalls konnte wohl nur kurz darüber froh sein, mit dem Leben davongekommen zu sein. Dem Absturz mit seinem Flugapparat folgte recht bald der soziale Absturz. Man bezeichnete ihn nun als Lügner und Betrüger, was zur Folge hatte, dass auch die Kunden seiner Schneiderwerkstatt ausblieben. Er verfiel dem Alkohol und dem Spiel, das ist tatsächlich aktenkundig. Albrecht Ludwig Berblinger versuchte alles, aber er kam nicht mehr auf die Beine. Mit 58 Jahren starb er im Hospital völlig verarmt und mittellos an "Auszehrung". Wo er begraben wurde, ist nicht bekannt.

In diesem Haus soll Berblingers Witwe ihren Lebensabend verbracht haben.
Warum hat der Schneider den Ulmern nicht mit weiteren Flügen am Michelsberg bewiesen, dass er sehr wohl fliegen konnte? Auch darauf könnte es eine Antwort geben: Sein Flugapparat soll aus "indischem Rohr", vermutlich Bambus, gewesen sein. Er fiel damit wohl unter die damalige "Kontinentalsperre" und wurde, zusammen mit anderen englischen Waren, wenig später unter amtlicher Aufsicht auf einem großen Scheiterhaufen verbrannt. Heißt es.