Flugschulen und das Herrenberg-Urteil : Künftig Leere in der Lehre?

Flugschulen und das Herrenberg-Urteil
Künftig Leere in der Lehre?

Zuletzt aktualisiert am 12.02.2025
Künftig Leere in der Lehre?
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"Wir müssen die Preise erhöhen, um eventuelle Mehrkosten, die bei der nächsten Prüfung der Rentenstelle auf uns zukommen könnten, abzusichern." Mit diesem Satz bringt Anja Möck, Geschäftsführerin der Flugschule Ardex in Kyritz, Brandenburg, die bereits jetzt abzusehenden Folgen der seit einiger Zeit gängigen Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit in Deutschland auf den Punkt. Die macht es Flugschulen nahezu unmöglich, Fluglehrer legal als freie Mitarbeiter zu beschäftigen.

Eine Musiklehrerein klagt auf Festanstellung

Hintergrund ist eine Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 28. Juni 2022, die aufgrund des Ortes, an dem der verhandelte Sachverhalt stattfand, nach dem baden-württembergischen Herrenberg auch als "Herrenberg-Urteil" in der öffentlichen Debatte präsent ist. Im zunächst am Sozialgericht Stuttgart verhandelten Fall ging es um die Frage, ob für eine auf Honorarbasis an einer Musikschule in Trägerschaft der Stadt Herrenberg arbeitende Klavierdozentin Sozialversicherungs- und Rentenbeiträge hätten gezahlt werden müssen, weil sie nicht, wie vertraglich vereinbart, als selbstständige Honorarkraft, sondern arbeitsrechtlich als abhängig Beschäftigte agierte. Das SG Stuttgart war der Ansicht, dass dies der Fall gewesen war. Die Musikschule hätte demnach die entsprechenden Sozialbeiträge nachträglich abführen müssen. Dagegen ging die Bildungsstätte in Berufung, woraufhin das Landessozialgericht Baden-Württemberg das erstinstanzliche Urteil kippte. Im Revisionsverfahren am Bundessozialgericht hingegen wurde die Einschätzung des SG Stuttgart bestätigt und die Honorarkraft als abhängig Beschäftigte eingestuft – mit den eingangs genannten Folgen.

Was nun hat ein Urteil im Rechtsstreit zwischen einer Klavierlehrerin und einer Musikschule im baden-württembergischen Outback im Flight Training Special des aerokuriers zu suchen?

Urteil mit weitreichenden Folgen

Mit dem Urteil hat das Bundessozialgericht seine Auffassung darüber klargestellt, durch welche Faktoren eine abhängige Beschäftigung charakterisiert wird. Diese Faktoren gelten nicht nur für Musikschulen, sondern für alle Unternehmen, die bisher freie Mitarbeiter beschäftigt haben, also auch für Flugschulen – und das wird für die ATOs und DTOs zu einem riesigen Problem. Um die Tragweite zu verstehen, empfiehlt sich ein Blick ins Urteil (BSG, Urteil vom 28.6.2022, Az.: B 12 R 3/20 R). Hier heißt es unter Punkt 11:

"Anhaltspunkte für eine [abhängige] Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt eine abhängige Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann […] eingeschränkt und zur ‚funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess‘ verfeinert sein." Weiter grenzt das BSG die abhängige Beschäftigung von der Selbstständigkeit ab. "Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet." Ob jemand beschäftigt oder selbstständig tätig ist, heißt es weiter, richte sich danach, welche Umstände das Gesamtbild der Arbeitsleistung prägen, und hänge davon ab, welche Merkmale überwiegen. Die Zuordnung einer Tätigkeit nach deren Gesamtbild zum rechtlichen Typus der Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit setze voraus, dass alle nach Lage des Einzelfalls als Indizien in Betracht kommenden Umstände festgestellt, in ihrer Tragweite erkannt und gewichtet, in die Gesamtschau mit diesem Gewicht eingestellt und nachvollziehbar, also den Gesetzen der Logik entsprechend und widerspruchsfrei gegeneinander abgewogen würden.

Freiberuflich als Fluglehrer? Im Prinzip unmöglich...

Da die meisten Freelance-Fluglehrer in den Betrieb der Schule intensiv eingebunden sind, sie Briefings und Debriefings nicht bei sich zu Hause oder in einem eigens angemieteten Schulungsraum absolvieren und auch nur in den seltensten Fällen ihr eigenes Flugzeug mit zur Schule bringen, dürfte es schwer sein, die Rentenversicherung davon zu überzeugen, dass hier kein Beschäftigungsverhältnis vorliegt, für das entsprechende Sozialbeiträge zu zahlen sind. Ergo: Das Geschäftsmodell der meisten Flugschulen ist nichtig. Freundlich formuliert. Arbeits- und sozialrechtlich betrachtet, dürfte es sogar illegal sein – mit weitreichenden Folgen.

Diese Einschätzung bestätigt auch der Hamburger Arbeitsrechtler Professor Dr. Michael Fuhlrott. "Es ist faktisch nicht mehr möglich, jemanden legal als freien Mitarbeiter zu beschäftigen, wenn er in die Abläufe eines Unternehmens eingebunden ist. Die Anforderungen der Rechtsprechung verschärfen sich hier zunehmend." Woher dieser plötzliche Wandel in der Rechtsprechung komme, könne er auch nicht erklären, man könne nur mutmaßen, dass die Rentenkassen ihre Einnahmen erhöhen wollen, um die Beiträge konstant halten zu können. Das gehe nur über mehr Einzahler. Ob die Beteiligten, also Auftraggeber und Freelancer, etwas anderes wollten, spiele rechtlich keine Rolle. Das Bundessozialgericht schreibt in seinem Urteil unmissverständlich: "Der besondere Schutzzweck der Sozialversicherung schließt es aus, dass über die rechtliche Einordnung einer Person – als selbstständig oder beschäftigt – allein die Vertragsschließenden entscheiden. Über zwingende Normen kann nicht im Wege der Privatautonomie verfügt werden."

Das Hauptproblem für die Schulen: Viele der Fluglehrer, die auf Honorarbasis arbeiten, wünschen gar keine Festanstellung, weil sie nebenberuflich schulen oder frei über ihre Zeit verfügen wollen. Das gelte laut Arbeitsrechtler Fuhlrott auch für andere Bereiche, in denen Experten einfach selbst entscheiden wollen, wann sie für wen arbeiten. Dass ein fest angestellter Airline-Pilot, der in seiner Freizeit als Fluglehrer für 35 Euro Aufwandsentschädigung pro Stunde Fußgänger zu Piloten macht, im späteren Ruhestand auf die Rentenbeiträge aus dieser Nebentätigkeit angewiesen ist, darf bezweifelt werden. Das aber ficht die Betriebsprüfer der Sozial- und Rentenkassen nicht an. "Das spielt keine Rolle. Wer dem Gesetz nach abhängig beschäftigt ist, für den sind Beiträge zu zahlen", so Fuhlrott.

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Es gibt generell zu wenige Fluglehrer

Die Leidtragenden dürften neben den Lehrern Flugschulen und Flugschüler sein. Abgesehen davon, dass bei jeder ATO im Rahmen einer Betriebsprüfung festgestellt werden kann, dass für in der Vergangenheit beschäftigte Freelancer Sozial- und Rentenbeiträge nachzuzahlen sind, müssen sich die Institutionen neu aufstellen – und stehen damit vor einer schier unlösbaren Aufgabe. "Die Theorie läuft fast ausschließlich über Freelancer", sagt Ardex-Chefin Anja Möck. "Auf diese Weise bekommen wir Abwechslung in den Unterricht und das Wissen von unterschiedlichen Leuten mit unterschiedlichen Hintergründen." In der Praxisausbildung sehe es ähnlich aus, im letzten Jahr hätten die Freelancer 50 Prozent der Flugstunden in Kyritz geschult. "Allein mit den festangestellten Lehrern könnte ich die Gesamtschulstunden nicht abdecken. Vor allem aber nützt es nichts, so viele Lehrer fest einzustellen, denn im Winter, wo das Wetter oft nicht mitspielt, braucht man die Kräfte gar nicht." Die Mehrkosten für einen festangestellten Lehrer beziffert Möck mit etwa 40 Prozent im Vergleich zum Freelancer. "Entsprechend müssten wir die Preise anpassen, also zahlen die Flugschüler künftig drauf." Diese Einschätzung bestätigt auch Roland Otto, Geschäftsführer der Motorflugschule Egelsbach. "Ein kostendeckender Betrieb ist ohne Freelancer undenkbar, man müsste die Preise um etwa ein Drittel anheben, damit das aufgeht. Für manche Interessenten wird die ohnehin schon teure Ausbildung unbezahlbar. Letztendlich glaube ich, dass in absehbarer Zeit viele Flugschulen schließen müssen."

Aber mit mehr Geld allein lässt sich das Problem nicht lösen, da sind sich Möck und Otto einig. "Es herrscht ohnehin ein erheblicher Lehrermangel", sagt der Egelsbacher Flugschul-Chef. Fluglehrer werden ist eine Investition, die Piloten machen, um sich weiterzubilden. Welcher Pilot, der bei einer Airline fliegt, würde dort kündigen und "nur" noch Fluglehrer sein wollen? Anja Möck sieht es ebenso düster. "Ich würde etliche Lehrer verlieren, weil für sie eine Festanstellung aufgrund ihres Hauptjobs gar nicht in Frage kommt. Der Bedarf lässt sich unter den neuen Bedingungen nicht decken."

Minijob als mögliche Zwischenlösung

"Ich sehe die Verzweiflung bei Freelancern und den Institutionen, die sie beschäftigen, aber eine Patentlösung habe ich nicht", sagt Rechtsanwalt Fuhlrott. Eine Möglichkeit, so der Jurist, sei es, das Arbeitsverhältnis als Minijob zu organisieren und nur die pro Monat zu leistenden Stunden zu vereinbaren. Fluglehrer, die zwischen 25 und 35 Euro pro Stunde an Honorar erhalten, könnten bei einem Maximalbetrag von 556 Euro zwischen 15 und 22 Stunden Theorie oder Praxis vermitteln. Die Flugschule müsste für den Minijobber allerdings zusätzlich knapp 200 Euro an Beiträgen zur Kranken- und Rentenversicherung abführen, der Fluglehrer zudem 20 Euro zur Rentenversicherung. "Damit ist man dann aber rechtlich auf der sicheren Seite und vermeidet böse Überraschungen", so Fuhlrott. Eine weitere Alternative ist die kurzfristige Beschäftigung, die pro Kalenderjahr nicht mehr als drei Monate oder 60 Arbeitstage dauern darf und von der Pflicht zur Zahlung von Rentenbeiträgen befreit ist. Dabei spielt die Höhe des Verdienstes keine Rolle, allerdings darf diese Arbeit nicht die Haupteinnahmequelle des FIs sein. "In jedem Fall rate ich dringend dazu, bei Unklarheiten ein Statusfeststellungsverfahren einzuleiten", sagt Fuhlrott. Das Online-Verfahren ist kostenfrei, dauert aber etwa drei Monate.

Die AOPA Germany hat das Problem bereits im Sommer 2023 erstmals aufgegriffen, als eine Mitglieds-Flugschule sich vor der Deutschen Rentenversicherung rechtfertigen musste, warum die Fluglehrer dort nicht fest angestellt sind. "Rein juristisch ist das Thema wohl durch, obwohl die Rentenversicherung in der Praxis bei ganz ähnlich gelagerten Fällen doch sehr unterschiedlich verfährt", so AOPA-Geschäftsführer Dr. Michael Erb. "Wir wollen jetzt versuchen, gemeinsam mit den anderen Verbänden von Betroffenen wie freie Musiklehrer, Fahrlehrer etc. mit dem neuen Bundestag zum Thema in die Diskussion zu kommen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstständigenverbände ist hier schon sehr aktiv, aber derzeit liegen im Wahlkampf natürlich alle Aktivitäten auf Eis.