Fliegerärztin mit Berufspilotenlizenz - The Flying Doctress

Fliegerärztin mit Berufspilotenlizenz
The Flying Doctress

Veröffentlicht am 04.08.2016

Doktor Ilse Janicke tritt ihren Dienst in diesem Jahr erstmals am 8. Mai an. Aber nicht als Ärztin in weißem Kittel, sondern in einem feuerroten Overall. Der Job der Düsseldorfer Kardiologin heute ist aber auch kein notärztlicher Einsatz. Für ihren Auftraggeber, die Air Albatros, ist es der Saisonbeginn. Das Unternehmen des Mülheimers Lothar Steinbiß betreibt seit 25 Jahren zwei Antonow An-2 im gewerblichen Flugbetrieb. Beide Maschinen, die D-FONE und die D-FKMB, tragen die gleiche feuerrote Farbe wie der Overall Dr. Janickes und sind im Ruhrgebiet eine fliegerische Attraktion.

Jeweils von einem Sonntag in der ersten Maihälfte an starten die beiden „Red Eagle“ und „Roter Baron“ getauften Flugzeuge von den Plätzen in Essen/Mülheim und Dortmund regelmäßig mit Passagieren an Bord zu Rundflügen über Westfalen und dem Rheinland, einschließlich des Düsseldorfer Airports und der City. Seit 2010 auch mit der Medizinerin im Cockpit, die in ihrem roten Dress und mit ihrem dunkelroten Haar hinter dem mächtigen Steuerhorn eine überaus gute Figur macht. Mit der Fliegerei hat die gebürtige Berlinerin schon als Jugendliche begonnen. Bis ins Cockpit einer An-2 und zuvor einer Ausbildung zur Fachärztin mit Zulassung als AME (Aeromedical Examiner) für flugmedizinische Tauglichkeitszeugnisse der Klassen 1 und 2 war es noch ein längerer Weg.

Vom Segelflug zur Berufspilotenlizenz

„Ich bin ja in Vorwendezeiten in Berlin aufgewachsen, da war die Sache mit der Segelfluglizenz nicht mal eben um die Ecke möglich“, erinnert sie sich. Das Fliegervirus hat sie schon als Kind erwischt, ist vielleicht sogar ein „Erbschaden“. Denn bereits ihr Vater war begeisterter Segelflieger – für die junge Ilse in der damals hinter dem Eisernen Vorhang eingeschlossenen Stadt der Glücksfall: „Jedes Wochenende ging es zum Segelfliegen in den Westen nach Braunschweig.“ Dort nahm sie als 14-Jährige das erste Mal in ihrem Leben selbst hinter einem Steuerknüppel Platz. Das war 1973. Anfang der 80er Jahre erwarb sie schließlich den PPL(C) und die Lizenz für eigenstartfähige Motorsegler; am Ende der Dekade hatte sie auch ihren PPL(A) sowie die F-Schleppberechtigung in der Tasche. Inzwischen längst im Westen angekommen, fand sie eine fliegerische Heimat im Luftsportclub Bayer Leverkusen. Dort hängte sie Ende der 90er noch die CVFR- und die Nachtflugberechtigung an.

Nicht weit von der Homebase der jungen Ärztin entfernt betrieben seinerzeit Wolfgang Bilo und Mark Stähle die Flugschule Flight Training Cologne – und eine An-2. Spätestens da muss die Kardiologin Herzblut für den Flugsaurier entwickelt haben. Damals hieß es in Bezug auf ihre Ambitionen zunächst noch: „Wenn Sie unsere An-2 fliegen wollen, machen Sie doch erst mal Ihren CPL“, erinnert sich Janicke. Da hatte sie mit der Berufspilotenlizenz bereits angefangen – und solche Vertröstungen spornten sie nur weiter an, zumal sie die Instrumentenflugberechtigung bereits in der Tasche hatte. Doch auch nach bestandener Prüfung nahmen die Sprüche kein Ende: „’ne Antonow? Da musste vorm Anlassen aber den Propeller erst 25-mal von Hand durchdrehen. Das ist doch wohl nix für so ’ne zierliche Frau!“ Doch die Ärztin wollte es den Skeptikern zeigen. Nach einer Differenzschulung mit 70 Starts und Landungen, die sie aus Kostengründen im April 2006 in nur zwei Tagen in Ungarn auf sich nahm, durfte sie die Bonner „Anna“ fliegen. Und war nach der Auflösung der Firma vor wenigen Jahren froh, in Lothar Steinbiß’ Air Albatros ein neues Unternehmen für eine Fortsetzung gefunden zu haben.

Die Begeisterung, die die Abwechslung zu ihrem Job in einem renommierten Herzzentrum bei ihr auslöst, merkt man der „Flying Doctress“ schon bei der Vorflugkontrolle an. Beim Walk-around um die Maschine geht ihr freudiges Grinsen einfach nicht mehr weg. Daran ändert auch das aus einem Ventil unter dem Motor tropfende Öl nichts, das sie beim Wegnehmen des Auffangeimers regelmäßig ins Gesicht bekommt. Selbst wenn sie sich in Schräglage mit ausgestreckten Armen gegen die Propellerspitzen stemmen muss, um die vor dem Start fälligen Motorumdrehungen zu bewältigen, weicht es allenfalls einem etwas angestrengteren Lächeln. Denn es hilft ja nix: Das Öl, das sich in den unteren Zylindern des Sternmotors gesammelt hat – er schöpft aus 30 Litern Hubraum 1000 PS –, muss vor dem Anlassen beseitigt werden. Diesen nicht ganz unkomplizierten Vorgang meistert die Ärztin routiniert: Erst mal mit einem Hebel rechts vom Pilotensitz per Handpumpe den nötigen Benzindruck aufbauen, dann vor Einschalten der Zündmagnete einen Elektromotor starten, der ein gewaltiges Schwungrad in Fahrt bringt, um – sobald dessen Energie zum Anlassen ausreicht – diese über ein Untersetzungsgetriebe auf die Kurbelwelle loszulassen. Den richtigen Zeitpunkt dafür kann die Pilotin nur am Laufgeräusch der Schwungscheibe erkennen.

Kaum hat sich der mächtige Verstellpropeller in Bewegung gesetzt, dröhnt der Motor nach einem kurzen Anstottern auch schon los. Ilse spielt gekonnt am Gashebel, um das Aggregat bloß nicht wieder absterben zu lassen. Nach einem kurzen Gruß über Funk setzt sich der Traktor der Lüfte Richtung Tankstelle in Bewegung. 1200 Liter Sprit nehmen die oberen Flächen auf. Niemals soll der Unterschied zwischen rechter und linker Seite mehr als 150 Liter betragen, mahnt ein Schild an der Tankanzeige im Cockpit – eine nach nur 50 Flugminuten verbrannte Menge.

An der Zapfsäule angekommen, hat die Fliegerärztin wieselflink den Rumpf der Antonow erklommen und ist über einen schmalen Steg zum Tankdeckel der rechten Fläche balanciert. Nach einem Blick darunter ruft sie dem Mann am Zähler die benötigte Menge zu. Die Zapfpistole hangelt sie mit einem Seil nach oben, Lothar Steinbiß assistiert von unten. Nun wird es Zeit! Es ist schon elf Uhr, und hinter der Absperrung am Vorfeld haben sich die ersten Fluggäste versammelt.

Mehrere Rundflüge unterschiedlicher Länge absolviert die Pilotin sonntags während der Saison. Der längste, der auch den Überflug der Landeshauptstadt inklusive ihres internationalen Flughafens umfasst, dauert etwa eine Stunde. Da kommt ganz schön was zusammen. Weit mehr als 300 der insgesamt 2500 Stunden, die sich in ihren Flugbüchern inzwischen summieren, hat sie in den vergangenen zehn Jahren als An-2-Pilotin gesammelt. Und weil die Betriebskosten eines solchen Flugzeugs nicht ohne sind, dürfen Passagiere gegen Aufpreis ihren Sitz gegen den rechts im Cockpit tauschen. So hat die Ärztin, die als Pilotin und Stewardess in Personalunion fungiert, im Flug Entlastung durch einen Luftraumbeobachter. 

Nach dem Zurückrollen an die Absperrung nimmt sie ihre Fluggäste persönlich in Empfang, geleitet sie zum Einstieg auf die linke Flugzeugseite und erklärt ihnen mit freundlicher Hingabe detailliert, mit welchem Flugzeug sie nun losfliegen und was sie dabei erwartet. Kaum einer der Fluggäste, der nicht schon dabei eine Kamera oder ein Smartphone in der Hand hätte – ein Antonow-Flug ist schließlich ein einmaliges Erlebnis. Als der Motor zum dritten Mal an diesem Vormittag anläuft, lebt ein ordentlicher Wind auf. „Das Spornrad ist frei beweglich, da kannste beim Rollen nur über die Bremse steuern“, erläutert sie das laute Pffff-pffft, das die Hydraulikbremse wie bei einem Lkw verursacht. Betätigt wird diese über nur einen Hebel am linken Steuerhorn – die Verteilung der Bremskraft auf die beiden Räder muss parallel dazu über die Seitenruderpedale geregelt werden. Keine einfache Geschichte, vor allem, wenn der Wind einem – wie jetzt beim Abbiegen in den Rollweg zur Piste 07 – ordentlich von der Seite gegen den mächtigen Rumpf drückt. Aber mit wenigen Schweißperlen kriegt sie die Kurve, und nach einem kurzen abschließenden Check am Rollhalt heißt es: „Wir starten.“ Kaum hat sie die Anna auf der Centerline ausgerichtet, schiebt sie den Gashebel bis zum Anschlag nach vorn und drückt nur leicht gegen das Höhenruder.

Die Anna fliegt, die Ärztin strahlt

Kurz nachdem sich Anuschkas Spornrad von der Bahn gelöst hat, hebt das Flugzeug auch schon beinahe unmerklich ab. Gerade mal 150 Meter Rollstrecke benötigt die voll besetzte Antonow, um in die Luft zu kommen. Als habe sie eben bei einem Notfallpatienten ein lebensbedrohliches Kammerflimmern verhindert, strahlt die Kardiologin nun über beide Backen. Obschon es recht bockig ist, haben wir bestes Flugwetter, das den Gästen nach Eindrehen Richtung Baldeneysee einen ungetrübten Blick auf die Villa Hügel ermöglicht. Mit 269 Räumen auf lächerlichen 8100 Quadratmetern Wohnfläche, die der Industrielle Alfred Krupp vor knapp 150 Jahren inmitten eines 28 Hektar großen Parks als standesgemäßes Unternehmerdomizil errichten ließ, gehört sie als Symbol der Industrialisierung Deutschlands zu den Highlights jedes Ruhrgebietsrundfluges. 

Entlang der Ruhr geht es Richtung Essener City und zur Neuen Mitte Oberhausen mit Blick auf das zum Veranstaltungsort umgebaute Gasometer weiter, das Sichtfliegern im Pott immer eine gute Orientierung bietet. Als wir aus dem Ruhrtal auf die Mintarder Brücke zufliegen, muss die Pilotin dem böigen Wind wieder ordentlich mit dem Seitenruder entgegenwirken – schließlich soll der Genuss ihrer Fluggäste möglichst unbeeinträchtigt bleiben. Als sie über Funk das Eindrehen ins Final meldet, erhält sie bis zur Landung vier Mal Antworten mit leicht verschiedenen Angaben über die Windstärke und -richtung. Der Türmer weiß, wer da kommt, und dass so eine schwere, mit neun Fluggästen beladene Spornradmaschine nicht so einfach wieder auf die Bahn zu setzen ist. Nun merkt man Ilse Janicke doch eine leichte Anspannung an. Konzentriert rudert sie gegen die Böen an, am Ende quittiert die Anna das Gasrausziehen damit, sich beinah saugend in Dreipunktlage auf dem Asphalt niederzulassen. Obschon nun das Ende des Spaßes unmittelbar bevorsteht, strahlen alle Passagiere begeistert. 

Der Besucherpulk hinter der Absperrung ist unverändert groß, als der Motor stoppt. Kaum hat Dr. Janicke den Fluggästen beim Ausstieg geholfen und Fragen beantwortet, kommt Steinbiß schon mit der nächsten Gruppe ums Leitwerk. Nachdem auch ich mich verabschiedet habe, hebt die „Red Eagle“ ein zweites Mal ab. Wie ich später erfahre, hat Lothar Steinbiß den sowjetischen Doppeldecker in einer abenteuerlichen Aktion direkt nach der Wende über die Treuhand erworben. Nur 24 dieser Flugzeuge sind heute in Deutschland noch zugelassen, privat oder von Vereinen betrieben. Und als ob es noch eine alte Verbundenheit aus dieser Zeit gäbe, schickt der Halter seine beiden An-2 jeden Winter in jenen Kamenzer LTB zurück, der sie für solche Zwecke in Schuss halten darf. Monate, in der die „Flying Doctress“ ihre Anuschka natürlich vermisst, fliegerisch aber trotzdem keine Langeweile aufkommen lässt. Einmal im Jahr treibt es sie noch heute zum Segelfliegen nach St. Auban in die französischen Seealpen. Und wenn gerade kein Segelflugwetter ist, fliegt sie allein oder mit ihren beiden Freundinnen mit der gemeinsamen Cessna 182 inner- und außereuropäische Ziele an. Für irgendwas muss ja schließlich auch das Instrument Rating gut gewesen sein.

aerokurier Ausgabe 07/2016