ADAC Luftrettung: Ruhestand für gelben Engel

ADAC Luftrettung
Ruhestand für gelben Engel

Zuletzt aktualisiert am 07.05.2021
Ruhestand für gelben Engel
Foto: Thomas Joswig
38 Jahre im Cockpit eines Rettungshubschraubers – das ist mehr als ein halbes Fliegerleben. Ist der Spirit der ersten Tage noch da?

Rüdiger Engler: Ich sehe es noch immer als ein großes Privileg an, dabei sein zu dürfen, fliegen zu können und dabei Menschen zu helfen. Wäre ich ein Schauspieler, könnte ich sagen, dass ich im Cockpit des Rettungshubschraubers die Rolle meines Lebens gefunden habe. Also ja, der Spirit ist noch da.

Wie sind Sie bei der Luftrettung gelandet?

Ich komme ursprünglich vom damaligen Bundesgrenzschutz, habe dort meine Pilotenausbildung auf der Alouette II gemacht und bin dann klassische Streifeneinsätze geflogen, zwei Jahre davon an der innerdeutschen Grenze. Auch die großen Einsätze dieser Zeit habe ich erlebt, beispielsweise die Proteste gegen Gorleben oder die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf. Im Anschluss bin ich Rettungshubschrauber des Bundesinnenministeriums geflogen, denn dafür stellte der BGS die Piloten. Nach Stationen in Köln und Saarbrücken bin ich in Bremen gelandet, bei Christoph 6.

Wie kamen Sie zur ADAC Luftrettung?

Bis 1997 war Bremen eine Station des Katastrophenschutzes, also unter Regie des Bundes. Dann übernahm die ADAC Luftrettung die Station, und ich habe mein sicheres Beamtenverhältnis gekündigt, einfach weil ich dort bleiben wollte. Und ich habe es nicht bereut.

In Ihrer Dienstzeit hat sich die Luftfahrt stetig weiterentwickelt, Stichworte sind der technische Fortschritt und die Digitalisierung. Wie haben Sie das erlebt?

Nach der Alouette bin ich Bo 105 geflogen, damals das Muster der Wahl für die Luftrettung. Was für ein Hubschrauber! Das war handwerkliches Fliegen in seiner reinsten Form, elektronische Helfer gab es kaum. Wir sind damals mit einer Straßenkarte auf den Knien geflogen, in die wir uns die Lufträume selbst eingezeichnet hatten. Da haben wir es heute mit GPS-Navi, FADEC und digitaler Einsatzvor- und -nachbereitung natürlich einfacher. Man kann sich als Pilot so viel mehr auf seine eigentliche Aufgabe konzentrieren: das Fliegen. Denn wenn ich mir heute in unbekanntem Gelände einen Landeplatz suchen muss, dann ist das noch genauso anspruchsvoll wie vor 30 Jahren.

Sie sprechen damit einen der Risikofaktoren der Luftrettung an. Was hat sich bezüglich der Sicherheit getan?

Sicherheit ist bei jedem der Einsätze Priorität Nummer eins. Bei der Bundespolizei sind wir noch mit den erlaubten 800 Meter Sichtweite im Luftraum Golf geflogen, die ADAC Luftrettung gibt 1,5 Kilometer als Minimum vor. Und wenn die Sicht so schlecht ist, fliegen wir auch weit langsamer als bei gutem Wetter. Ich muss immer abwägen, ob wir den Einsatz durchführen können, und zu den größten Herausforderungen des Berufs gehört es, auch mal nein zu sagen und abzubrechen. Denn dem Patienten ist nicht geholfen, wenn auch noch der Rettungshubschrauber verunglückt. Dankenswerterweise sieht das auch unser Arbeitgeber so und steht voll hinter den Entscheidungen der Piloten.

Wie haben sich die Ansprüche an die Crews verändert?

Im Gegensatz zu den Anfangsjahren, in denen der Pilot der Big Boss an Bord war und das Sagen hatte, gibt es heute eine ausgeprägte Kultur der Zusammenarbeit. Natürlich bin ich noch immer Kommandant, habe die Verantwortung für den Hubschrauber und die Crew und muss am Ende die Entscheidung treffen. Aber ich bespreche mich mit mit dem Notarzt und meinem TC HEMS, wie die Notfallsanitäter in der Luftrettung heute heißen, und beziehe ihre Überlegungen, Ideen und Bedenken mit ein. So ist die Informationsbasis der Entscheidung breiter, was der Sicherheit zugutekommt. Und natürlich müssen wir heute alle digitalaffin sein. Das gilt für mich, wenn es ums Einsatzrouting geht, für den TC HEMS, der mich im Cockpit unterstützt und den Funkverkehr mit der Leitstelle abwickelt, und auch für die Notärzte, denn auch die medizinischen Daten werden heute vielfach digital erfasst.

Wie sehen Sie die Perspektiven der Zukunft, in denen vielleicht sogar Multikopter oder autonome Fluggeräte in der Luftrettung eingesetzt werden?

Als die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth fuhr, haben nicht wenige Menschen sie als Teufelszeug betrachtet, das keiner braucht. Die technische Entwicklung geht weiter, und es ist doch nur konsequent, dass sich auch die ADAC Luftrettung daran beteiligt und prüft, was künftig zum Wohle der Patienten eingesetzt werden kann.

Thomas Joswig
Hat sich die Wahrnehmung der Luftretter in der Öffentlichkeit gewandelt? Sind auch Sie inzwischen von der ersehnten Hilfe zum Ziel von Angriffen geworden, wie sie die bodengebundenen Einsatzkräfte immer wieder erleben?

Ich habe in meiner ganzen Dienstzeit erst zweimal schlechte Erfahrungen gemacht, und angegriffen wurde meine Crew bisher noch nicht, Gott sei Dank. Okay, ich als ehemaliger Polizist bin es gewohnt, mich durchzusetzen, und konnte damals diejenigen, die uns angehen wollten, in die Schranken weisen. In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle jedoch, in denen wir irgendwo einschweben, um zu helfen, sind wir das Ziel interessierter Aufmerksamkeit. Klar, Luftfahrt ist immer spannend, Hubschrauber sowieso, und es ist immer toll, wenn sich Menschen, denen man geholfen hat, hinterher bedanken oder uns Außenstehende zu verstehen geben, wie sehr sie unsere Arbeit schätzen. Auch das Klatschen zu Corona-Zeiten war etwas, worüber man sich als Beteiligter gefreut hat. An dieser Stelle ist mir aber noch wichtig, dass nicht aus dem Blick gerät, dass nicht nur Piloten, Notärzte und die TC HEMS dazugehören. Genauso wichtig sind die Techniker und die Kollegen in der Verwaltung, die den ganzen Apparat am Laufen halten. Die darf man bei dem Lob nicht vergessen!

Gibt es einen Einsatz, der eine besondere Bedeutung für Sie hat?

Es gab einige bemerkenswerte Einsätze, aber das ICE-Unglück von Eschede war eine Zäsur – nicht nur für mich, sondern für alle Einsatzkräfte von der Polizei über Feuerwehren, Rettungsdienst und Luftrettung bis hin zum Katastrophenschutz. Die Erlebnisse von damals sind bis heute präsent, und wenn ich darüber spreche, kommen mir auch heute noch manchmal die Tränen.

Sie haben damals bereits 15 Jahre lang Rettungshubschrauber geflogen, hatten viel gesehen. Was war in Eschede anders?

Wir wurden früh alarmiert, waren der dritte von insgesamt acht Hubschraubern der ADAC Luftrettung, und wir hatten bis zum Eintreffen am Einsatzort kaum Informationen über das, was wir dort vorfinden würden. Die Funkfrequenzen waren derart überlastet, dass einfach nichts zu uns durchkam. Und dann haben wir dieses katastrophale Bild gesehen, den völlig zerstörten Zug, die eingestürzte Brücke. Auf so etwas waren wir nicht vorbereitet. Ich habe nach der Landung zunächst den leitenden Notarzt gesucht, um mir einen Überblick zu verschaffen, und bin dabei mehrfach an einem Kinderschuh vorbeigelaufen, was mich ungemein berührt hat, weil ich mich die ganze Zeit fragte, wo das Kind dazu ist. Aber im Einsatz funktioniert man einfach, man schiebt es weg. Ich habe dann die Koordination der Hubschrauber vor Ort übernommen, um da Ordnung reinzubringen. Es dauerte, bis Zuständigkeiten geklärt waren und jeder wirklich wusste, was zu tun war, und wir helfen konnten.

Wie geht man mit solch intensiven Erfahrungen um?

Das hat sich nach Eschede radikal gewandelt. Man hat erkannt, dass auch Helfer Hilfe brauchen, um derartige Erlebnisse zu verarbeiten. Das ICE-Unglück war rückblickend der Beginn der systematischen Notfallseelsorge für Helfer in Deutschland, die es vorher zwar gab, aber nicht so koordiniert und nicht in dem Ausmaß. Auch bei der ADAC Luftrettung wurden danach sogenannte Peer-Gespräche angeboten, in denen man mit Kollegen über das Erlebte reden konnte. Ich habe das in Anspruch genommen und mich danach selbst in Kursen fortgebildet, um als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen, wenn andere jemanden zum Reden brauchten. Bis heute habe ich etwa 40 solcher Gespräche geführt oder – das trifft es besser – einfach zugehört. Und ich bin froh, dass es die Kollegen in Anspruch genommen und mir damit viel Vertrauen entgegengebracht haben.

Sie haben noch rund neun Monate Dienstzeit vor sich, dann gehen Sie in den Ruhestand. Wird man da wehmütig?

Alles hat seine Zeit. Schon heute gibt es Dinge, die ich vermisse, beispielsweise das wunderbare Röhren der Bo 105 beim Anlassen damals, als sie noch unser Hubschrauber bei der Luftrettung war. Das war ein Gänsehaut-Gefühl! So werde ich sicher auch meinen Arbeitsplatz im Cockpit vermissen. Allerdings ist es auch schön zu wissen, dass es nach wie vor Leute gibt, die für die Luftrettung brennen. Ein Beispiel: Ein Notarzt, der heute auf Christoph 6 mitfliegt, stand als Kind immer bei uns am Zaun und hat uns zugeschaut, er war völlig fasziniert vom Rettungshubschrauber. Er ist erwachsen geworden, hat Medizin studiert, und jetzt gehört er zur Crew! So dreht sich die Welt eben weiter, auch wenn ich in Rente bin.