Fliegen mit Handicap? Einfach machen! Inklusion im LSV Vlotho

Inklusion im LSV Vlotho
Fliegen mit Handicap? Einfach machen!

ArtikeldatumVeröffentlicht am 11.12.2025
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Barrieren gibt es nur im Kopf", lautet ein Satz, der in den Reihen des LSV Vlotho oft zu hören ist. So manches gesellschaftliche Denkmuster wird in dem rund 100 Mitglieder starken Verein durch gelebte Inklusion gerade auf den Prüfstand gestellt. Das Ziel: Menschen mit Handicap sind als vollwertige Mitglieder integriert, packen bei Arbeiten mit an, und natürlich fliegen sie auch selbst. Das wirkt sich auch auf die Jugendarbeit aus, denn so wird Inklusion für die jungen Menschen zu etwas Selbstverständlichem. Es geht aber auch um alltägliche Dinge wie barrierefreie Toiletten oder Anträge auf Fördermittel. Initiator des Projekts ist Ausbildungsleiter Christian Schultz, der als hauptberuflicher Geschäftsführer der Diakonie Minden die Herausforderungen für Menschen mit Einschränkung aus erster Hand kennt.

März 2025: Janis McDavid hebt ab

Die Initialzündung für das Projekt liegt drei Jahre zurück. Damals lernte Christian Schultz bei einer Tagung des Bundesverbands evangelische Behindertenhilfe in Berlin Janis McDavid kennen. Der 34-Jährige, der sich selbst als Weltentdecker, Technologie- und Diversity-Botschafter bezeichnet, ist ohne Arme und Beine zur Welt gekommen. Er liebt Extreme, hat eine Rennfahrerlizenz erworben, mit Freunden den Kilimandscharo erklommen und das Schwimmen für sich entdeckt, deutsche Rekorde inklusive. Janis‘ humorvoll-selbstbewusster Auftritt hat Christian beeindruckt. Im Gedächtnis geblieben sind ihm Sätze wie "Ich habe meine High Heels immer dabei …", mit denen Janis dem Publikum seinen High-Tech-Rollstuhl vorstellte – und sich damit unverhofft eine Einladung ins Cockpit sicherte. "Hey, komm doch mal zum Fliegen bei uns vorbei", hat Christian damals sinngemäß gesagt.

Ende März 2025 war es schließlich so weit: Janis hob ab, mit der vereinseigenen Cirrus SR20, mit der ultraleichten Dynamic, mit dem Segelflugzeug und sogar mit einem Hubschrauber. Der LSV tischte unter medialer Begleitung sein komplettes Programm auf. "Das Highlight war der Segelkunstflug", erinnert sich Janis. Mit der ASK 21 kopfüber über Porta West- falica zu brettern, das war genau sein Ding. In der Dynamic erreichte er den Stick und konnte selbst steuern. Janis als Botschafter für Inklusion, eine Rolle, in der er sich wohlfühlt. Der Weg ins Cockpit bleibt Janis zwar (vorerst) verwehrt, andere hingegen möchte er ermutigen, diesen Weg zu beschreiten – getreu seinem Motto: "Eine Einschränkung ist eserst, wenn mir jemand beweist, dass es auch eine ist."

Zu unserem Treffen im Oktober am Flugplatz Porta Westfalica kommt Janis mit seinem Mercedes-Bus angebraust, mit dem er sich selbst und seinen Rollstuhl kreuz und quer durch Deutschland transportiert. Eine Joystick-Steuerung ermöglicht ihm das Autofahren – so viel zum Thema Barrieren. Die Begrüßung ist herzlich. Man kennt sich. Ein Glas Wasser? "Gerne!" Wer braucht schon Hände zum Trinken? Auf der Terrasse sitzen bereits Carsten Tölle, 57, und Dirk Freudenberg, 49, die sich angeregt übers Fliegen unterhalten. Das mit dem Sitzen ist wörtlich gemeint, denn beide sind nach Motorradunfällen in jungen Jahren auf den Rollstuhl angewiesen, und beide haben ein Faible fürs Fliegen. Noch-Flugschüler Carsten ist Besitzer einer ultraleichten C42 und steht kurz vor dem Prüfungsflug. Dirk ist nach einem Schnupperflug im UL an diesem Vormittag Feuer und Flamme, selbst Pilot zu werden. Natürlich darf Christian in der Runde nicht fehlen.

"Behinderung entsteht im Kopf"

Auch Carstens Lebensgeschichte ist die eines Machers. Mit 19 Jahren hatte er einen Unfall, der ihm erst eineinhalb Jahre im Krankenhaus und anschließend ein Leben im Rollstuhl bescherte. Sein Schicksal hat er damals schnell akzeptiert. Der gelernte Kraftfahrzeugmechaniker machte eine Ausbildung zum Fahrlehrer und fuhr ungeachtet seines Handicaps sogar Rennen in der Formel 3. "Mit dem entsprechenden Willen kannst du ganz viel machen", sagt er. Man müsse eben bereit sein, Umwege in Kauf zu nehmen. Auf Umwegen ging es auch zur Fluglizenz. Eine Runde in der Cirrus hatte vor zwei, drei Jahren die Begeisterung fürs Fliegen entfacht. Ein Weg wäre die Segelfluglizenz gewesen. Doch bei einer Außenlandung hätte er sich kaum allein aus dem Cockpit befreien können. Außerdem gefällt ihm der Gedanke, mal eben auf eine Insel fliegen zu können. Ein motorisiertes Vehikel musste her und davor das medizinische Tauglichkeitszeugnis.

Mindestens 30 Fliegerärzte hat er abgeklappert, schätzt Carsten. Alle hätten ihn abblitzen lassen. Erst Dr. Hubertus Bobke aus Calden bei Kassel zeigte sich offen und stellte ihm das Medical aus. Einzige Einschränkung ist der Eintrag "AHL – Gültig nur mit genehmigter Handsteuerungskontrolle des Luftfahrzeugs". "Ich kann es also, und ich darf es jetzt", sagt er mit einem Lächeln und ergänzt: "Die eigentliche Behinderung entsteht bei uns im Kopf." Carsten machte seine fliegerische Ausbildung bei der Flugschule Herkules am Flughafen Kassel-Calden. Klar war für ihn, dass er ein eigenes Flugzeug braucht: "Mir war es wichtig, unabhängig von fremden Flugzeugen sein zu können. Was bringt mir eine Lizenz, wenn ich nicht jederzeit fliegen kann?" Auf dem Gebrauchtmarkt fand sich eine C42, die er unter anderem mit einer neuen Bespannung auf Vordermann brachte. Zum Paket gehörte auch eine Handsteuerung fürs Seitenruder. Kostenpunkt: 600 Euro. Der Ein- und Ausbau ist eine Sache von Minuten.

Die C42 ist das ideale Fluggerät

Carsten demonstriert, dass das UL von Comco Ikarus für Rollstuhlfahrer nahezu ideal ist. Raus aus dem Rollstuhl, rein in den Flieger – für ihn keine große Sache. Der Einstieg in einen Schulterdecker gelingt einfacher als beim Tiefdecker, und der mittig angeordnete Stick ist den Beinen nicht im Weg. Carsten öffnet das Gepäckfach in der Rumpfröhre, wo er einen faltbaren Rollstuhl verstauen kann. Hilfe beim Ein- und Ausladen vorausgesetzt, bringt dieser ein Stück Unabhängigkeit am Zielort. Ebenso einfach gelingt der Einstieg in die TL-3000 Sirius vom benachbarten Aero Club Bad Oeynhausen-Löhne, jenes UL, mit dem Dirk an diesem Morgen zum Schnupperflug startete. Dass man als Rolliflieger seine Ausflüge stets so planen sollte, dass man nicht allein am Flugplatz ist, versteht sich von selbst. Schon das Tanken kann sonst zur unüberwindbaren Hürde werden.

Mit der C42, so die Planung, könnte Carstens Rollstuhl-Lieferant und Freund Dirk demnächst seine Ausbildung absolvieren. Auch er hat sich von seiner körperlichen Einschränkung nie unterkriegen lassen, ganz im Gegenteil: Dirk war von den Hürden für Rollstuhlfahrer derart genervt, dass er mit seinem "Rollistore" aus der Not eine Tugend gemacht hat. Aus dem Ärger über Rollstühle von der Stange und fragwürdigen Service in Sanitätshäusern entstand 2013 zunächst ein kleiner Online-Shop für Rollstuhl-Zubehör. Heute beschäftigt der Unternehmer elf Angestellte – sechs davon sind selbst im Rollstuhl unterwegs –, die Kunden mit Rollstühlen nach Maß und allerlei Mobilitätsprodukten versorgen. Auch Dirk kennt kaum Grenzen: Kartfahren, Fallschirmspringen und demnächst vielleicht auch Fliegen. "Wir sind vergänglich. Erledigt die Dinge von eurer Bucket List", sagt seine Frau Joanna. Sie würde es begrüßen, wenn ihr Mann die eine oder andere Dienstreise mit dem UL abkürzen könnte: "Gut ist alles, was ihn früher nach Hause bringt."

Das Gespräch driftet ab. Janis, Carsten und Dirk berichten, wie kompliziert das Leben sein kann, wenn man Fahrten mit der Bahn 24 Stunden vorher anmelden und dann hoffen muss, dass der Bahnhof über einen funktionierenden Fahrstuhl verfügt und der Zug nicht ausfällt. Sie wissen, wie schwer es mitunter ist, der Krankenkasse nach Jahren des Dauerbetriebs einen neuen Rollstuhl abzuringen, der nicht gerade dem Seniorenheim-Standard entspricht. Inklusion in Deutschland? Hört man den Protagonisten zu, könnte man meinen, dass es so etwas gar nicht gibt.

Der LSV Vlotho möchte es besser machen, auch wenn vieles noch am Anfang steht. Im Auftrag des Vereins hat Christian Fördermittel beantragt, um ein Segelflugzeug mit Handsteuerung zu beschaffen, am liebsten den polnischen Doppelsitzer SZD-54 Perkoz. Eine Zusammenarbeit besteht mit dem Aero Club Bad Oeynhausen-Löhne, der eine Handsteuerung für seine TL-3000 anschaffen möchte, sobald der Hersteller eine Lösung präsentiert. Auch für die Cirrus SR20 ist noch keine zertifizierte Handsteuerung verfügbar. Dann ist da noch der vereinseigene Falke-Motorsegler, bei dem der Einstieg ins Badewannen-Cockpit für Rolliflieger ohne tatkräftige Hilfe oder Lift kaum zu bewerkstelligen ist. Gleiches gilt für die WT9 Dynamic.

Inklusion macht den LSV bekannt

Derweil zieht das Projekt bereits Kreise. Ein weiterer potenzieller Schüler mit Handicap interessiert sich für eine Ausbildung beim LSV Vlotho. Auch der niedersächsische Landtagsabgeordnete Constantin Grosch würde gerne in Porta Westfalica abheben, doch sind ihm körperlich besonders enge Grenzen gesetzt. Stattdessen könnte seine Frau die Ausbildung machen und ihn mitnehmen. Carsten hat Kontakte zur bundesweiten Organisation "Die Rolliflieger", die die Interessen von Piloten mit Handicap vertritt. Ebenso gibt es lockere Kontakte zu anderen Vereinen. Christian spricht von einem "Leuchtturmprojekt".

Dass es allem Ehrgeiz zum Trotz Grenzen gibt, weiß der Initiator: "Es ist nicht unser Ziel, aus jedem einen Piloten zu machen, aber zumindest jedem die Möglichkeit zu geben, zu fliegen. Egal in welcher Form. Auch Menschen mit geistiger Behinderung sollen die Chance bekommen, in Begleitung (mit)fliegen zu dürfen." Dabei wirft Christian einen Gedanken in den Raum: "Die meisten Menschen haben ihre persönlichen Einschränkungen. Wenn man es genau nimmt: wir alle!", sagt er und fasst sich an die Brille. Auch Janis ist bewusst, dass seine Zeit für die Pilotenlizenz noch nicht gekommen ist. "Sobald es ein entsprechendes Flugzeug gibt, bin ich der Erste, der hier auf der Matte steht." Wenige Minuten später steigt er mit Leichtigkeit für einen Mitflug in die Cirrus ein – kein Zweifel, der Mann meint es ernst.

Für Carsten hat sich der Weg ins Cockpit schon jetzt gelohnt. Er hat seine anfängliche Höhenangst überwunden und sich weiterentwickelt. Dass mancher ihn anfangs gar als "Spinner" bezeichnet hat – Schnee von gestern. Nur eine Sache bereut er: "Ich hätte 20 Jahre früher mit dem Fliegen anfangen sollen." Christian fügt hinzu: "Wenn Menschen mit Einschränkungen das Steuer übernehmen, verändert sich nicht nur ihr Blick auf die Welt, sondern auch unserer … Einfach mal machen!"