Unfallanalyse: Überforderung im Endanflug - Absturz!

Unfallanalyse
Überforderung im Endanflug

Veröffentlicht am 10.02.2024

Auch wenige, scheinbar kleine Pilotenfehler können sich in kritischen Flugphasen schnell zu einer gefährlichen Situation summieren. Im Landeanflug fällt die Entscheidung zum Abbruch und Durchstarten oft schwer, wenn die Piste schon zum Greifen nahe ist. Dabei kann das Risiko einer Bruchlandung durch einen zweiten Versuch deutlich verringert werden. Auch der Pilot einer Cessna 401 entscheidet sich am 28. August 2020 beim Anflug auf den Verkehrslandeplatz Arnsberg/Menden im Sauerland gegen den Go-around – mit verheerenden Folgen für sich selbst und seine Passagiere.

Pilot mit Erfahrung

An jenem Tag im Spätsommer sprechen zwei Zaungäste den Piloten kurz vor dem Start am Flugplatz Marl-Loemühle an. Spontan lädt er sie auf den Flug zum Verkehrslandeplatz Arnsberg/Menden ein, der nur 30 Nautische Meilen südöstlich liegt. Der Pilot ist 73 Jahre alt und hat schon mehr als zwei Jahrzehnte Erfahrung und insgesamt über 6300 Flugstunden vorzuweisen. In seiner Lizenz sind die Berechtigungen für ein- und mehrmotorige kolbengetriebene Flugzeuge sowie die VFR-Nachtflugberechtigung eingetragen. Die letzte Befähigungsüberprüfung hat er wenige Wochen zuvor absolviert. In seinem medizinischen Tauglichkeitszeugnis sind Einschränkungen in Bezug auf seine Sehschärfe und die "Erfordernis besonderer medizinischer Untersuchungen" vermerkt. Im Cockpit der Cessna hat er laut seinen Aufzeichnungen etwa 500 Stunden verbracht. In den vergangenen 90 Tagen ist er 14 Stunden geflogen.

Um 15:41 Uhr startet die Cessna 401 von der Asphaltpiste in Marl-Loemühle und geht auf Kurs Südost. Einer der Fluggäste sitzt neben dem Piloten vorne auf dem rechten Sitz, der andere dahinter. Die Zweimot steigt zunächst auf eine Reiseflughöhe von 2200 Fuß. Wenig später meldet sich der PIC bei der Flugverkehrskontrolle des Flughafens Dortmund und bittet um eine Freigabe, um die Kontrollzone über den Meldepunkt Whiskey in südöstlicher Richtung zu durchfliegen. Der Lotse genehmigt den Durchflug. Anschließend dreht die Zweimot nach rechts auf einen direkten Kurs nach Arnsberg.

BFU

Unkonventioneller Anflug

Wenige Minuten später sind es nur noch rund 2,5 Nautische Meilen bis zur Schwelle von Arnsberg/Menden. Der Pilot kurvt jetzt nach links in östliche Richtung und kreuzt etwa 0,7 Nautische Meilen vor der Schwelle in 1400 Fuß Höhe die Anfluggrundlinie der Piste 23. In einer weiteren Linkskurve dreht die Zweimot um 16:01 Uhr in den Endanflug zur 23 ein. Dabei erreicht der Tiefdecker eine Querneigung von 45 Grad. Die Cessna hat beim Eindrehen ins Endteil wieder leicht an Höhe gewonnen, der Pilot peilt jetzt in etwa 1500 Fuß über dem Gelände, rund eine Meile vor der Schwelle mit 100 Knoten auf dem Fahrtmesser die Piste an. Fahrwerk und Landeklappen sind ausgefahren, der Wind weht mit zwölf Knoten aus 230 Grad.

In den folgenden 30 Sekunden verringert der PIC kontinuierlich die Geschwindigkeit, bis die Cessna die Blue Line Speed (102 KIAS) erreicht. Er setzt nun beide Triebwerke auf Leerlauf, offenbar hat er die Maschine dabei aber schon in eine Fluglage mit sehr hohem Anstellwinkel gebracht. Kurz darauf unterschreitet die Zweimot die Minimum Approach Speed, dann auch die Minimum Control Speed. Schließlich kommt es zum Strömungsabriss durch Unterschreiten der Überziehgeschwindigkeit für 30 Grad Klappen. Der Crash ist jetzt nicht mehr aufzuhalten: 200 Meter vor der Schwelle kracht der Tiefdecker in einen zur Piste hin ansteigenden Hang. Die beiden Passagiere und der Pilot werden bei dem Aufprall schwer verletzt, sie erleiden polytraumatische Knochenbrüche, unter anderem auch schwere Gesichtsverletzungen und mehrfache Wirbelbrüche, die in einem Fall zu einer Querschnittslähmung führen. Am Flugzeug entsteht schwerer Sachschaden. Das Wrack liegt unterhalb der asphaltierten Flugbetriebsfläche, die der Schwelle zur Piste 23 vorgelagert ist.

BFU

Unfalluntersuchung

Die Ermittler der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) können anhand der Rutschspuren auf dem ansteigenden Gelände feststellen, dass die Cessna zuerst mit dem Fahrwerk und der Rumpfunterseite aufschlug und anschließend noch rund zehn Meter hangaufwärts weiterrutschte. Dabei kollidierte sie mit einer Pistenbeleuchtung und einem Flugplatzschild. Die Schäden am vorderen Rumpf bis zu den Tragflächenwurzeln und das gebrochene Hauptfahrwerk weisen auf eine vertikale Aufschlagsenergie hin. Das Bugrad wurde dabei in den Fahrwerksschacht zurückgedrückt. An beiden Propellern ist die Welle gebrochen und die Drehebene um etwa 45 Grad nach vorne geklappt. Die Oberseite der linken Tragfläche ist über die gesamte Flügeltiefe bis zum Querruder gebrochen. Bei den Untersuchungen am Wrack ergeben sich keine Hinweise auf einen technischen Defekt an einem der Triebwerke. In den Kraftstoffspinnen und den Filtern der Throttle & Control Assemblies beider Motoren sind noch geringe Mengen Kraftstoff vorhanden, die Propellerblätter sind teilweise nach hinten verbogen – ein Hinweis darauf, dass sie sich beim Aufschlag noch drehten. Anhand der Spuren an der Unfallstelle gehen die BFU-Experten davon aus, dass die Cessna kurz vor dem Aufschlag in einem Sackflug mit großer Längsneigung flog. Ein Test am Wrack zeigt, dass die Überziehwarnung noch funktioniert. Der Pilot hätte die Gefahr demnach bemerken müssen.

BFU

Anspruchsvolles Manöver

Bei der Auswertung der Flugwegdaten stellen die Ermittler außerdem fest, dass der PIC nicht wie üblich den Landeanflug in einen Gegen-, Quer- und Endanflug einteilte, sondern die Anfluggrundlinie der Piste 23 kreuzte und anschließend in einer langgezogenen Kurve ins Endteil eindrehte. Dazu heißt es im Untersuchungsbericht der BFU: "Dieser persönlich gewählte Anflug beanspruchte die Leistungskapazitäten des Piloten in deutlich höherem Maße als eine Standardplatzrunde." Darüber hinaus führte der Anflug dazu, dass der Pilot in kurzer Zeit die Geschwindigkeit deutlich reduzieren und entsprechend Leistung und Trimmung anpassen musste. Zugleich musste er den Radius der Kurve genau auf die Anfluggrundlinie führen. Der Anflug wurde dadurch ohne Not deutlich schwieriger.

Ein weiterer Faktor, der das Unfallgeschehen negativ beeinflusste: Da die Landeklappen lediglich auf 30 Grad ausgefahren waren, erhöhte sich die Überziehgeschwindigkeit im Vergleich zu voll ausgefahrenen Klappen um etwa drei Knoten. Bei zwölf Knoten Gegenwind und einer Anfluggeschwindigkeit von 70 Knoten über Grund (82 KIAS) flog die Cessna unterhalb des Drei-Grad-Anflugwinkels der PAPI-Anzeige. Die BFU folgert daraus, dass der Pilot spätestens zu dem Zeitpunkt, als das PAPI-System vier rote Punkte anzeigte, die Triebwerksleistung hätte erhöhen müssen, um noch die Pistenschwelle zu erreichen oder durchzustarten. Dies zeige, so die Ermittler, dass er zumindest in dieser Phase versehentlich die Asphaltfläche vor der nach hinten versetzten Schwelle zur Landung anvisierte und weder die PAPI-Anzeige noch die Fluggeschwindigkeit ausreichend im Blick hatte.

BFU

Auf die Überziehwarnung nicht reagiert

In den letzten acht Sekunden vor dem Aufprall flog die Cessna in einem Geschwindigkeitsbereich, der eine permanente akustische Überziehwarnung ausgelöst haben muss. Die ausgewerteten Daten zeigen jedoch keine Reaktion des Piloten, weder eine Verringerung des Anstellwinkels noch eine Erhöhung der Triebwerksleistung. Die Rekonstruktion der letzten Sekunden des Landeanflugs deutet darauf hin, dass der PIC mit den unterschiedlichen Parametern, die während dieser Phase zu beachten waren, zumindest zeitweise überfordert war. Das ansteigende Gelände vor der Schwelle könnte außerdem zu der optischen Täuschung eines zu steilen Anflugs geführt haben. Möglicherweise bemerkte der Pilot dadurch nicht, dass seine Flughöhe kurz vor der Piste viel zu gering war.

Risikofaktor Alter

Schließlich sehen die BFU-Ermittler auch das hohe Alter des Piloten als möglichen Einflussfaktor bei dem Unfallgeschehen in Arnsberg. Im Untersuchungsbericht widmen sie diesem Aspekt ein eigenes Kapitel. Darin heißt es, dass der natürliche Alterungsprozess häufig mit einer Verschlechterung psychophysischer Leistungsfähigkeit einhergehe. Insbesondere eine Beeinträchtigung der Wahrnehmung durch vermindertes Hör- und Sehvermögen sowie eine eingeschränkte Beweglichkeit und Feinmotorik könnten sich negativ auswirken. Auch Ermüdungserscheinungen und damit verbunden eine verminderte Konzentrationsfähigkeit führen bei älteren Menschen häufig zu Defiziten bei der Informationsverarbeitung. Solche Beeinträchtigungen könnten sich in dem untersuchten Fall zusammen mit dem anspruchsvollen Endanflug aus einer steilen Kurve heraus zusätzlich negativ ausgewirkt haben.

Holland-Moritz

Veraltetes Gurtsystem

Und auch das über 50 Jahre alte Flugzeug brachte für die Insassen eine oft unterschätzte Gefahr mit sich: ein veraltetes, unzureichendes Gurtsystem. Anders als moderne Flugzeuge war die Cessna 401 nicht mit Mehrpunkt- oder Schultergurten ausgestattet, sondern lediglich mit Beckengurten. Schon im Jahr 1952 wurden in einer Studie des Forscherteams um Hugh DeHaven die Verletzungen bei 800 Überlebenden von Unfällen in der Allgemeinen Luftfahrt untersucht. Das Ergebnis: Sowohl die lebensgefährlichsten als auch die häufigsten Verletzungen traten vor allem im Bereich des Kopfes und des Brustkorbes auf. Die Insassen der untersuchten Fälle waren allesamt nur mit Beckengurten gesichert gewesen. Dabei kommt es, so die Forscher, zu einer klappmesserartigen Vorwärts- und Rückwärtsbewegung mit dem Becken als Drehachse. Eine weitere Untersuchung des National Transportation Safety Board (NTSB) aus dem Jahr 1985, bei der 500 Unfälle mit Kleinflugzeugen analysiert wurden, kam zu ähnlichen Ergebnissen. Demnach sind durch die Verwendung zeitgemäßer Schultergurte 88 Prozent aller schweren und 20 Prozent aller tödlichen Verletzungen vermeidbar.