Hausbesuche mit dem Tragschrauber

Flying Doctor
Hausbesuche mit dem Tragschrauber

Zuletzt aktualisiert am 23.05.2015

Dr. Steffen Kappelmann hat sich als Veterinär auf Großtiere spezialisiert. Auch sein Äußeres passt dazu: Der 40-Jährige ist ein sportlicher Typ, groß, muskulös, und man sieht ihm an, dass er zupacken kann, wenn es drauf ankommt. Kappelmann ist verheiratet mit einer Tierärztin und Vater von zwei Kindern. Dass er heute mit dem Tragschrauber zu landwirtschaftlichen Betrieben rund um Ludwigsburg fliegt, hat eine eher traurige Vorgeschichte.

„Damals, das war 2004, war ich draußen im Westen des Landkreises, um Pferde zu impfen. Da erreichte mich der Notruf eines Landwirts aus dem äußersten Osten meines Einzugsgebiets. Eine Kuh hatte Probleme beim Kalben, es bestand Lebensgefahr für das Kälbchen. Ich ließ alles stehen und liegen und raste los. Im Berufsverkehr geriet ich in einen Stau und brauchte mehr als eine Stunde. Als ich ankam, war das Kalb tot, erstickt. Wäre ich in 20 Minuten da gewesen, hätte ich das Tier noch retten können. Mit dem Helikopter hätte ich das problemlos in der Zeit geschafft. Von da an beschäftigte mich das Thema und ließ mich nicht mehr los. Ich habe gerechnet und Preise verglichen, habe den Zeitgewinn ermittelt und kam zu dem Schluss, dass sich ein Helikopter, eine R22, für Flüge zu meinen zu betreuenden weiter entfernt liegenden Gehöften durchaus rentieren würde.“

Da stand nun die Idee, konträr dazu aber die Meinung der Ehefrau, die eine Kleintierpraxis betreibt und wenig mit der Fortbewegung in der dritten Dimension anfangen kann. Aber sie erkannte die längst erwachte Leidenschaft ihres Mannes und schenkte ihm 2006 einen Schnupperflug. Steffen Kappelmann war dann nicht mehr zu bremsen und entschied sich für den Erwerb der Hubschrauberlizenz. Zur Theorie fuhr er vom heimatlichen Sachsenheim zweimal wöchentlich nach Stuttgart, die praktische Ausbildung auf der zweisitzigen Robinson R22 folgte zügig, und Anfang 2009 erwarb Steffen Kappelmann in Donaueschingen parallel auch die Musterberechtigung für die viersitzige R44.

Sommer 2012: Ein großes landwirtschaftliches Anwesen bei Leonberg. Auf dem modernen Hof sind mehr als 300 Milchkühe beheimatet. Heute ist Steffen Kappelmann unterwegs, um die Tiere mit dem Ultraschallgerät zu untersuchen – reine Routinearbeit. In seinem zweisitzigen Tragschrauber des Musters MTOsport befinden sich rund 30 Kilogramm Gepäck: die Arzttasche natürlich und das Ultraschallgerät, aber auch die obligatorische Gummischürze, Gummistiefel sowie ein Laptop. Der Tragschrauber, der nahe seines Hauses auf einem landwirtschaftlichen Anwesen „geparkt“ ist, dient nun als schnelles Fortbewegungsmittel von Hof zu Hof, während sich auf den Straßen Baden-Württembergs der Berufsverkehr staut.

Zur Landung genügt eine lange ebene Wiese. Kein Thema für den Tragschrauber und keines für Kappelmann. Hier ist er schon oft gelandet. Niemand ist darüber irritiert, vielleicht ein paar radelnde Urlauber, die den fliegenden Tierarzt nicht kennen. Der Hof scheint verwaist. Kappelmann rollt den Tragschrauber in den Schatten des Stalls. Dort „begrüßen“ ihn unzählige schwarz-weiße Vierbeiner. Der Tierarzt telefoniert mit dem Landwirt und bereitet sein Equipment vor. Kurz darauf kommt der Bauer mit dem Traktor angefahren. Es hatte zuvor tagelang geregnet, und jetzt scheint endlich wieder die Sonne. Da ist das Einbringen des Getreides wichtiger als die Ultraschalluntersuchung. Der Landwirt bedauert, dass er das nicht früher abgesprochen hat. Kappelmann hat dafür volles Verständnis. Schnell verschwindet die Gummischürze wieder im Tragschrauber, und alle Utensilien werden sauber verpackt.

Fluggerät mit Arztplakette

Auf dem Rumpf der dunkelroten MTOsport mit der Kennung D-MSKT prangt ein ungewöhnliches Logo. Eine befreundete Designerin aus Mosbach hat es entworfen: das Wort „Tierarzt“ eingerahmt in eine Fliegerschwinge. Noch ist es ein Unikat. Es gibt in Deutschland zwar einige fliegende Tierärzte, allerdings ist Steffen Kappelmann bisher der einzige, der seine tierischen Patienten mit dem Tragschrauber besucht.

Nach anfänglichen Flügen mit einer gecharterten R22 und mittlerweile 140 Flugstunden auf Helikoptern ist Steffen Kappelmann Anfang 2012 auf den preiswerteren Tragschrauber umgestiegen. Die Ausbildung dazu absolvierte er im Jahr zuvor in Mosbach, danach übernahm er gleich auch den Gyrocopter, auf dem er geschult hatte. „In Olaf Straub von Airbase K habe ich einen guten Lehrer gefunden, der dem Schüler eine sehr gründliche Ausbildung vermittelt und ihn auch auf kritische Situationen vorbereitet.“ Angesichts der jüngsten Diskussionen um die Sicherheit des Tragschraubers und das Zusammenspiel zwischen Technik und Pilot ist es Kappelmann ein Anliegen, zu betonen, dass alles mit dem Niveau der Ausbildung steht und fällt.

Sie ist das A und O beim Tragschrauberfliegen. Dabei hat er Verständnis für die Kritiker, und er weiß, dass in einigen Schulen wohl sehr locker ausgebildet wurde und wird. „Aber in Mosbach habe ich einen sehr hohen Standard kennen und schätzen gelernt. Es hat mir sehr viel gebracht, dass mein Fluglehrer mit mir Situationen erarbeitet hat, die mich sicherlich in eine schwierige Lage gebracht hätten, wenn ich als Anfänger völlig unvorbereitet damit konfrontiert worden wäre.“ Allerdings hat Kappelmann auch erkannt, dass man als Pilot mit wenig Flugerfahrung an seine Grenzen gelangt, wenn man Helikopter und Tragschrauber im Wechsel betreibt. In kritischen Situationen verlangen die Geräte unterschiedliche Reaktionen des Piloten. Antrainiertes kann manchmal fatal sein. Folgerichtig entschied sich der fliegende Tierarzt während der Tragschrauberausbildung, das Helikopterfliegen für eine Weile hintanzustellen.

Bei der Zulassungsbehörde beantragte Kappelmann Außenlandegenehmigungen an den von ihm zu betreuenden Höfen. Mit den Grundstückseigentümern, die ja in solchen Fällen zustimmen müssen, gab es überhaupt keine Probleme. „Die Landwirte sind generell sehr aufgeschlossen gegenüber allem Modernen. Sie haben sehr schnell erkannt, dass die große Zeitersparnis des Tierarztes letztlich auch ihnen zugute kommt“, sagt Kappelmann. „Platzprobleme gibt es ja auch nicht, denn die Höfe liegen meist außerhalb der Ortschaften, und nahezu jedes Anwesen verfügt über ausreichende, hindernisfreie Start- und Landeflächen.“

Die Sachbearbeiter beim zuständigen Regierungspräsidium schauen sehr genau, ob das Landeareal geeignet ist. Geeignet für An- und Abflüge sind Wiesen, Stilllegungsflächen, abgeerntete Felder oder Koppeln. Geprüft wird auch, ob es Leitungen oder andere Hindernisse gibt. Die Startrollstrecke jedenfalls ist für Kappelmann nie ein Problem: „Mein Tragschrauber ist nach 20 bis 50 Metern schon in der Luft, und auch an heißen Tagen habe ich keine Leistungsprobleme, da ich ja allein unterwegs bin und nur wenig zusätzliches Gewicht mitnehme. Wenn ich doch mal mehr Geräte mitnehmen muss und meinen Praktikanten, der mir vor Ort gelegentlich assistiert, dann fliege ich mit der R44. Aber das kommt nur drei- oder viermal im Jahr vor.“

Landungen offiziell von Amts wegen

Zuerst genehmigte die Behörde Landungen auf fünf weiter entfernten Höfen; nach und nach kamen immer mehr dazu. Heute darf Kappelmann auf 27 Anwesen im Umkreis von 50 Kilometern um seine Heimatbasis im Landkreis Ludwigsburg offiziell landen. Die Verlängerung der Genehmigung erfolgt immer pro Hof und jeweils für ein Jahr und ist natürlich nur auf seine Person begrenzt.

Das Handy klingelt. Jetzt doch noch ein echter Notfall? Ein Bauer hat Sorge um seine Kuh, die bald kalben wird und offenbar lahmt. „Die Landwirte wissen sich meist sehr gut selbst zu helfen, aber in solch einem Fall schau ich doch lieber, was los ist.“ Von der Anhöhe startet der Tragschrauber. Wieder gibt es niemanden, der das zur Kenntnis nimmt, bis auf die neugierige Hofkatze, die aber das Weite sucht, als das rote Ding ein wenig Staub aufwirbelt. Ziel ist das andere Gehöft. Flugzeit: nur knapp zehn Minuten. Unterstützt wird Kappelmann unterwegs von einem Power Flarm sowie vom Luftraumwarngerät Aware5. Der Hof liegt deutlich außerhalb der CTR von Stuttgart, und auch hier erfolgt der Anflug auf eine frei gelegene Graspiste.

Der Bauer freut sich, dass der Doktor vorbeischaut. Er hat alles richtig gemacht, hat der Kuh Vitamin B und die vom Tierarzt empfohlenen Medikamente gegeben. Das Tier frisst und säuft wieder. Alles ist in Ordnung. Der Doktor kann nach Hause fliegen. In der nahen Scheune parkt er den Tragschrauber wieder, sichert die Blätter und deckt das Fluggerät ab. Er lädt das gesamte Equipment in sein Auto und fährt heim. Am Abend hat er noch was vor. Er will in Stuttgart üben. Üben?

„Captain Cani“ steht auf Steffen Kappelmanns Fliegerhelm. Das ist eine Art Künstlername, abgeleitet vom lateinischen Canis lupus (Wolf). Wenn er nicht als Tierarzt unterwegs ist oder nicht fliegt oder nicht als Lokalpolitiker im Gemeinderat tätig ist, macht Steffen Kappelmann Musik. Er komponiert, textet, singt, und er plant, demnächst auch mit einer Band aufzutreten. Dafür übt er. Und die Musik ist ihm wichtig, so wichtig wie das Fliegen: „Da krieg’ ich den Kopf frei!“

aerokurier Ausgabe 10/2012