Avgas 100LL – wie lange noch?

Nahendes Produktionsverbot
Avgas 100LL – wie lange noch?

Zuletzt aktualisiert am 22.11.2024
Avgas 100LL – wie lange noch?
Foto: Patrick Holland-Moritz

Die Frage ist nicht, ob das Schicksal von verbleitem Avgas 100LL (nicht nur) in der Europäischen Union besiegelt ist, sondern eher wann. Die EU-Kommission hat im April 2022 eine ab 1. Mai 2025 geltende Änderung der REACH-Verordnung zur Beschränkung chemischer Stoffe bekannt gegeben, in der es auch um ein Produktionsverbot von Avgas 100LL geht, dem das schädliche Tetraethylblei (TEL) beigemischt ist. Gleichzeitig lässt die Verordnung Hintertürchen offen, denn betroffen ist nur die Produktion von Avgas 100LL mit der Substanz, aber nicht der Import von fertig produziertem Avgas in die EU. Auch haben die Hersteller die Möglichkeit, Ausnahmegenehmigungen zu beantragen – Shell, Trafigura/Puma und Warter haben Anträge eingereicht.

Ein paar Zahlen vorab: Nach Angaben der AOPA Germany sind rund 16 000 in Europa registrierte Kolbenmotorflugzeuge auf Avgas 100LL angewiesen. Schon jetzt hat sich die Verfügbarkeit des Kraftstoffs in einigen Regionen der Welt verschlechtert. In Deutschland werden pro Jahr rund 14 Millionen Liter "Bleisprit" verbraucht, so die Schätzung eines Herstellers aus dem Jahr 2022. Pro Liter sind bis zu 0,56 Gramm TEL enthalten. Macht also rund acht Tonnen nur hierzulande.

Wenige Monate vor dem Stichtag sind noch viele Fragen zur Zukunft von Avgas offen, der sich die Fliegergemeinschaft des Flugplatzes Bonn/Hangelar rund um den Vorsitzenden Dirk Wittkamp in einem Webinar gewidmet hat. Als Referenten dabei waren mit Dirk Weigand, Vertriebsleiter Luftfahrt von TotalEnergies, und Clemens Bollinger von Bollinger Aviation zwei Experten für Flugkraftstoffe. Martin Birkmann, Chef der Flugzeugwerft Bonn/Hangelar, brachte sein Know-how in Sachen Motorentechnik ein. Stefan Bitterle sprach aus Pilotensicht.

Sicher scheint, dass Importe die Avgas-Versorgung in Europa retten können, bis alternative Kraftstoffe zertifiziert und verfügbar sind, sofern die EU sich nicht doch noch kompromissbereit zeigt – worauf manches hindeutet. Eine Anfrage bei der europäischen Chemikalienagentur (ECHA) hat ergeben, dass diese zu einem der Anträge eine "Opinion" abgegeben hat. Shell selbst hat bestätigt, dass diese Opinion sich auf den eigenen Antrag bezieht. Vorgesehen ist eine Produktionsgenehmigung bis 2032. Das letzte Wort hat die Europäische Komission, deren Entscheidung laut Shell im ersten Quartal 2025 erwartet wird. Entscheidend für die Verfügbarkeit von Avgas ist der Kurs der USA mit rund 220 000 registrierten Kolbenmotorflugzeugen. Dort steht das Jahr 2030 für das Aus im Raum. Seit 2013 läuft über die US-Luftfahrtbehörde FAA das Programm Piston Aviation Fuels Initiative (PAFI).

Importe als Zwischenlösung?

"Wir hoffen zwar, dass es so nicht kommt, sind aber bestens vorbereitet", sagte Dirk Weigand mit Blick auf das bevorstehende Produktionsverbot. Sollte die EU Ernst machen, so wäre eine durchaus mögliche Alternative eine Versorgung mit Avgas 100LL aus einem Nicht-EU-Land, in dem TotalEnergies Avgas 100LL produziert. Eigene Alternativen zu diesem Kraftstoff habe TotalEnergies nicht in der Entwicklung, das Unternehmen sei aber über Patente indirekt in die Entwicklung anderer Unternehmen involviert. Das bleifreie UL91 ist zwar eine seit Jahren verfügbare 100LL-Alternative für bestimmte Motoren, wurde aber an einigen Flugplätzen von "Mogas" – so der Begriff für Super Plus ohne zertifizierte Lieferketten – verdrängt. Auch in Bonn/Hangelar ist UL91 nicht mehr im Angebot.

Erste Alternativen sind zugelassen

Angesichts drohender TEL-Verbote auf beiden Seiten des Atlantiks kommt immer mehr Bewegung in den Markt für umweltverträglichere Avgas-Alternativen. So arbeitet der US-amerikanische Treibstoffhersteller Swift Fuels mit Sitz in West Lafayette, Indiana, seit 15 Jahren an einem solchen Kraftstoff. Seit einigen Wochen ist das Produkt namens Swift 100R als erster bleifreier Flugkraftstoff mit 100 Oktan auf dem europäischen Markt zugelassen, nachdem die US-Luftfahrtbehörde FAA bereits im September grünes Licht gegeben hat. Das EASA-STC gilt für den Lycoming IO-360-L2A in den weitverbreiteten Modellen Cessna 172 R und S. Aktuell testet der Hersteller die Verträglichkeit mit Sechszylinder-Motoren von Continental, unter anderem für den Continental TSIO 550, der die Cirrus SR22 Turbo befeuert. Der Treibstoff lässt sich mit Avgas 100LL sowie mit allen anderen bekannten Luftfahrt-Treibstoffen mischen. In Deutschland gibt es zwei Partner: Die Firma Swift Fuel aus Saarbrücken unter der Leitung des Piloten und Chemikers Dr. Thomas Albuzat unterstützt den Hersteller bei der Zusammenarbeit mit der EASA. Bollinger Aviation wird sich künftig um den Vertrieb des noch nicht verfügbaren Kraftstoffs kümmern.

General Aviation Modifications (GAMI) – sonst im Geschäft mit Entwicklung und Herstellung von Einspritzdüsen – hat mit G100UL ebenfalls eine Alternative zu 100LL entwickelt. Seit 2021 ist das Flugbenzin zugelassen und kann in Flugzeuge mit ergänzender Zulassung (STC) getankt werden. Der Verkauf startete kürzlich an einem Flugplatz in Kalifornien. Cirrus Aircraft, der führende Hersteller von Einmots, hat jedoch vor der Verwendung in seinen Flugzeugen gewarnt und droht mit Garantieverlust.

Ein weiterer Player ist VP Racing Fuels: Der texanische Entwickler für Motorsport-Kraftstoffe forscht seit 2018 zusammen mit dem internationalen Chemieunternehmen LyondellBasell an UL100E, einem bleifreien Flugtreibstoff gemäß den Standards ASTM D910, der bereits getestet wird.

Patrick Holland-Moritz

Vorerst kein Drop-in-Ersatz

Weder G100UL noch Swift 100R können auf absehbare Zeit als universeller 100LL-Ersatz eingesetzt werden, sondern bedürfen ergänzender Typenzulassungen (STC). Auch im UL100E-Team gibt es Zweifel an der Machbarkeit eines Ersatztreibstoffs: "Es gibt keinen Drop-in-Kraftstoff, der 100LL ersetzt. Anfangs dachten wir, dass wir das können, haben aber herausgefunden, dass auch wir nicht dazu in der Lage sind", dämpfte Dan Pourreau, Business Development Manager bei LyondellBasell Industries, bei einer Pressekonferenz auf dem EAA AirVenture in Oshkosh im Juli 2024 die Erwartungen – nicht ohne zu betonen, dass man am Ball bleiben werde. Ein Kernproblem sieht er in der hohen Oktanzahl: Um diese ohne Bleizusatz zu erreichen, müsse man möglicherweise andere Eigenschaften des Treibstoffs verändern. Eine zu hohe Anzahl verschiedener Treibstoffe, auch das wurde beim Hangelarer Webinar angesprochen, würde die Tankstellenbetreiber vor Probleme stellen, die dann mehrere Zapfsäulen bereitstellen müssten.

Auto-Fuel-STC als Lösung?

Schon jetzt ist der Betrieb mancher Flugzeuge mit Mogas möglich. Über ein Auto-Fuel-STC verfügt beispielsweise die von einem Lycoming O-320 angetriebene Piper PA-28-161 Warrior II, die Pilot Stefan Bitterle in einer Haltergemeinschaft betreibt. Die Umrüstung erfolgte über Vliegwerk Holland für einen mittleren vierstelligen Betrag. Die Erfahrungen nach mittlerweile 250 Flugstunden sind positiv. Bei der Maintenance gibt es bisher keine Auffälligkeiten, und Bleiablagerungen an den Zündkerzen gehören der Vergangenheit an. Die einzige technische Änderung ist der Einbau einer zweiten Kraftstoffpumpe, die bei Taxi, Start, Steigflug und Landung in Verbindung mit dem rechten Tank zum Einsatz kommt. Für die Cessna-172-Flotte gibt es ein solches STC zwar nicht, allerdings hat der Hersteller Textron Aviation bereits 2021 viele kolbengetriebene Cessna- und Beechcraft-Flugzeuge mit den hauseigenen Lycoming-Motoren für die Verwendung verschiedener umweltverträglicherer Spritsorten wie beispielsweise UL91 zugelassen.

Motorenexperte Martin Birkmann sieht die Verwendung von Mogas in Flugmotoren indes skeptisch. "Die Motoren stammen aus den 1960er Jahren, als es nur Avgas gab", sagte er. Technische Veränderungen habe es seitdem kaum gegeben. Motoren, die nicht mit Avgas betrieben werden, leiden häufiger unter klemmenden Ventilen oder weisen Riefen in den Kolben auf. Die Verbrennung von Mogas sei heißer, und es fehle das Blei als Schmierstoff. Weniger Leistung könne eine weitere Folge sein. Auch die Dichtungen und Schläuche seitens der Zelle leiden häufig unter der Verwendung von Mogas. "Man kann das machen, aber nicht auf Dauer", rät er.

Fazit des Online-Seminars: Eine Drop-in-Lösung ist noch nicht in Sicht, allerdings stellen sich mehrere Firmen den Herausforderungen. Eines scheint jedoch wie so oft sicher: Preiswerter wird das Tanken nicht. Neuentwicklungen, Zertifizierungen und der Aufbau der Produktion kosten Geld, und auch die CO2-Abgabe steigt Jahr für Jahr. Selbst wenn sich ein universeller Ersatz für 100LL finden sollte, ist das zentrale Problem Klima- und Umweltschutz nicht gelöst: Während sich die Autoindustrie und auch Teile der Luftfahrt elektrifizieren, wirkt die Debatte über bleifreien Sprit auf fossiler Basis für durstige Motoren aus dem letzten Jahrhundert irgendwie aus der Zeit gefallen.

Wir haben den Artikel am 25. November aktualisiert, nachdem die ECHA auf Nachfrage bestätigt hat, dass sie eine Stellungnahme zu einem der Anträge erarbeitet hat. Die Anträge können hier eingesehen werden.