Kann mir gar nicht passieren: Ich fliege immer umsichtig, vermeide gefährliche Bedingungen, bin immer nur ‚straight and level’ unterwegs. Den Eintritt in den Sackflug bemerke ich in jedem Fall und kann mich mit dem in der Ausbildung angeeigneten Handwerkszeug sicher wieder herausbringen.“ Gerne wird mit solchen Argumenten ein Sicherheitstraining ausgeschlagen, aber es ist ein Herummogeln um lebenswichtige Übungen. Ein Blick in die Unfallstatistik zeigt, dass der Kontrollverlust (Loss of Control in Flight, LOC I) eine große Rolle spielt.
Mehr als 80 Prozent der LOC-I-Unfälle enden tödlich. Und das gilt nicht nur für die Allgemeine Luftfahrt. Gerade in jüngster Vergangenheit gab es spektakuläre Abstürze von Verkehrsflugzeugen aufgrund eines Kontrollverlusts. Die dreiköpfige Air-France-Crew, die im Mai 2009 mit ihrem Airbus und 216 Passagieren an Bord aus dem Reiseflug heraus innerhalb weniger Minuten vom Rand der Troposphäre in den Atlantik stürzte, hatte nicht erkannt, dass sie ihr Flugzeug völlig überzogen hatte, und hatte mit völlig falschen Steuereingaben den Airliner bis zum Aufschlag genau in dieser Lage gehalten! Im März 2009 stürzte eine Boeing 737-800 der Turkish Airlines im Anflug auf den Flughafen Amsterdam auf einem Acker. Die Besatzung hatte zuvor die Kontrolle über das Flugzeug verloren. Neun Menschen, darunter die Crew, kamen dabei ums Leben. Die Aufzählung solcher LOC-I-Unfälle aus der Verkehrsluftfahrt ließe sich um eine ganze Reihe weiterer Beispiele fortsetzen.
Das Erschreckende daran: Hier saßen Profis im Cockpit! Oder besser: eben nur vermeintlich gut ausgebildete Piloten. Sicherheitsexperten geißelten: Geschulte Verhaltensregeln für das Recovern hätten hier erst recht zur Katastrophe geführt. Die Experten forderten Korrekturen in der Ausbildung und wiederholte Sicherheits-Trainings. Die Gründe für einen Kontrollverlust können sehr vielfältig sein. Die auslösenden Faktoren werden mit jedem Flugzeug erfahren, gleich welcher Größe:
● Turbulenzen, Windscherungen und Leewellen
● Wirbelschleppen
● Vereisung
● Fehlbedienung (Autopilot)
● Falschanzeigen (Fahrtmesser, Horizont)
● Vertigo, Schwindel, Desorientierung
Unfallstatistik liefert Beispiele
Für jeden dieser Faktoren liefert die Unfallstatistik Beispiele. Betroffen sind Piloten der Allgemeinen Luftfahrt und der Verkehrsluftfahrt. Die automatischen Recovering-Systeme von High-Tech-Autopiloten bieten mit „envelope protection“ keinen ausreichenden Schutz, da auch diese versagen, wenn die Eingangsparameter außerhalb der Limits liegen. Wenn bestimmte Grenzwerte überschritten werden, steigt auch die automatische Protection aus! Hier hilft nur Training. Aber schon in der Ausbildung für den PPL und höhere Lizenzen beschränkt sich die Gefahreneinweisung meist auf das Herantasten an die Überziehgeschwindigkeit und das Herausführen aus dem Stall. Viele PPL-Schüler lernen den kompletten Strömungsabriss und das Trudeln gar nicht kennen. Fluglehrer Oliver Will, im Hauptberruf Ausbildungskapitän auf dem Airbus A320, der in seinen „Upset Recovery Trainings“ Piloten von Leichtflugzeugen wie Airlinern schult, musste feststellen, dass nicht wenige Fluglehrer Angst vor dem Trudeln haben und es deshalb vermeiden.
Oft steht in den Flugschulen auch kein geeignetes Fluggerät zur Verfügung für das sich vertraut machen mit Strömungsabriss und Trudeln. Oliver Will: „In der Berufs- beziehungsweise Verkehrsluftfahrt ist das Bild noch düsterer: Zwar werden in der Grundausbildung entsprechende Übungen gefordert, danach jedoch sieht kein Pilot jemals wieder Schräglagen über 30 Grad oder einen echten Strömungsabriss mit seinen Folgen.“ Das gesamte Training in der Ausbildung zielt darauf ab, dass die Piloten gar nicht erst in solch eine Lage kommen. So wird im Simulator der Strömungsabriss lediglich bis zum Frühwarnsystem „Stickshaker“ trainiert.
Hier zeigt sich das nächste Problem: Für ausführlichere Übungen sind die Simulatoren nicht gemacht, die rechnerseitige Programmierung enthält lediglich Daten für den normalen „Flight Envelope“. Die auftretenden g-Kräfte können ohnehin nicht dargestellt werden. Verliert ein Pilot oder eine Besatzung dann tatsächlich einmal die Kontrolle, weiß Oliver Will aus seinen Trainings, reagieren die meisten Piloten zunächst intuitiv und planlos. Und diese intuitiven Reaktionen sind schlicht falsch!
Kippt die Nase nach unten, wird gezogen. Neigt sich im überzogenen Flugzustand der Flügel, wird mit dem Querruder gegengehalten. Vor allem erschrecken untrainierte Pilotenerst einmal in der für sie völlig neuen Situation des Abkippens oder Trudelns und verlieren entscheidende Sekunden bis zur Reaktion. Das muss nicht sein. „Die Schrecksekunde lässt sich wegtrainieren.“ Oliver Will, auch Fluglehrer für Kunstflug, hat in seiner eigenen Akroausbildung gelernt, dass man mindestens den Angstfaktor vor dem Abkippen oder großen Schräglagen wegtrainieren kann. Der Kontrollverlust wird in der Praxis immer überraschend eintreten. Der geschulte Pilot kennt aber die Konsequenzen. Sie werden ihn nicht mehr so emotional ergreifen, dass er erst einmal Zeit braucht, sich zu sammeln, um dann adäquat reagieren zu können. Die Situation wird ihn überraschen, aber nicht erschrecken. Viele Teilnehmer haben Oliver Will das bestätigt. Ihre Kommentare reichten von „Ich hätte nicht gedacht, dass ich so falsch reagiere“ bis hin zur Erkenntnis „Nur wenn man es selbst gemacht hat, kann man richtig reagieren.“ Bei Oliver Wills erfolgt das praktische Training nach einer theoretischen Einführung während eines Fluges von rund 45 Minuten. Will: „Üblicherweise reicht die Blockstunde, um genügend Wiederholungen zu üben. Viele Piloten wollen dann auch lieber eine Pause, wobei nur äußerst selten wirklich Übelkeit hochkommt.
Darauf achten auch unsere Lehrer, denn es soll ja auch noch Spaß machen!“ Die für das Upset Recovery oder auch Unusual Attitude Training entwickelten Übungen bauen aufeinander auf. Zunächst werden Übungen geflogen, mit denen der Pilot ein Gefühl für die zulässigen Beschleunigungskräfte gewinnen und sie dann auch steuern kann. Dann folgen Übungen mit zunehmend größeren Schräglagen (60/90/120/150 Grad). Im Langsamflugtraining geht es darum, das Flugzeug ohne Querruder behutsam mit dem Seitenruder auf Kurs zu halten. In den folgenden Übungen darf das Flugzeug abkippen mit gesetzter Leistung und ohne. Schließlich wird angetrudelt. Zuletzt geht es um das richtige Ausleiten des Trudelns. Bei diesen Übungen wird beachtet, aus welchen Bereichen die Teilnehmer kommen.
Piloten der Allgemeinen Luftfahrt dürfen für das Stoppen von Rotationen kräftig ins Seitenruder treten, Airliner-Piloten werden zu einer zurückhaltenderen Betätigung angeleitet. Anlass dazu gab der Absturz des American-Airlines-Airbus über New York im Jahr 2001. Am Steuer saß ein im Upset Recovery geschulter Pilot. Dessen wilden Seitenruderausschläge in der Wirbelschleppe eines zuvor gestarteten Großflugzeugs hatten zum Verlust des gesamten Leitwerks geführt. Aufgrund der Rückpfeilung des Airbus-Tragwerks war der Airliner wegen der heftigen Rotation um die Hochachse und der gleich darauf folgenden Gegenreaktion des Piloten in ein sich aufschaukelndes, wildes Rollen versetzt worden, dem die Struktur des Seitenleitwerks nicht mehr standgehalten hat. Für Flugzeuge mit zurückgepfeiltem Flügel, so die Erkenntnis nach diesem Unfall, empfiehlt sich deshalb ein umsichtiger Umgang mit dem Seitenruder.
Für das Training geht es mit der akrotauglichen Robin R-2160 in den Kunstflugraum südwestlich des Ammersees. Schon der Hinflug wird für erste Übungen genutzt. Der Trainer fliegt die Übung vor, der Trainee fliegt sie nach. Als Erstes werden rund 1,7 g gezogen, dann zur Parabel nachgedrückt und im Scheitel 0,5 g erreicht. Der Fahrtmesser zeigt, dass in diesem Augenblick die Robin auch weit unterhalb der Minimalfahrt sicher fliegt – sie ist ja in dem Moment auch nur noch halb so schwer. In einer weiteren Parabel werden 2,5 g gezogen – für Airliner das Maximum. Dank dieser Übungen gewinnt der Teilnehmer das Gefühl, was er seinem Flugzeug zumuten kann, wenn er es nach einem Strömungsabriss beziehungsweise aus dem Trudeln abfängt.
Ruhe bewahren und überlegt reagieren
Nach den Langsamflugübungen und einer Gewöhnung an große bis extreme Schräglagen geht’s dann richtig zur Sache. Will reißt die Robin in eine ungewohnte Fluglage. Erst jetzt darf der Trainee wieder an den Steuerknüppel. Er hat die Aufgabe, das Flugzeug in die Normalfluglage zurückzuführen. Vor der Aktion ist aber erst einmal Orientierung angesagt. Dazu gehört, den Kopf in den Nacken zu legen, um den Horizont ins Blickfeld zu bekommen. Erst wenn klar ist, wo sich Blau und Grün scheiden, kann gerollt und in den Horizontalflug übergegangen werden. Oliver Will schätzt hier und bei den weiteren Abfangübungen das Nebeneinandersitzen, das die Kontrolle des Trainees erheblich erleichtert. Nach einer Reihe dieser Übungen verliert das Kopfstehen und verquere Hängen im Luftraum das Anstrengende, Fremde.
Das Orientieren fällt zunehmend leichter. Erst dann geht es an die Abkippübungen und das Trudeln. Das heftige Herausfallen aus dem Normalflug wird nach den Vorübungen auch schon gar nicht mehr als so brutal erlebt, wie es ohne Vorbereitung erfahren wird. Und wieder gilt, sich erst einmal zu orientieren, das Flugzeug auszurichten und dann in Ruhe bis drei zu zählen. Das hilft, das Flugzeug nicht gleich wieder in einen Stall zu reißen. Dann wird mit der zuvor geübten g-Belastung abgefangen. Beim Trudeln darf die Bewegung für die Übung auch erst einmal stationär werden. Die Robin muss dazu über die erste Umdrehung hinauskommen. Sie quittiert das mit einem kleinen Schlackser und dreht dann kontinuierlich weiter. Erst nachdem Wiesenstücke und Waldkanten einige Male ums Cockpit herumgewirbelt sind, darf der Trainee wieder übernehmen: Kräftiger Tritt entgegen der Drehrichtung ins Seitenruderpedal, Steuerknüppel neutral und abwarten, bis die Drehbewegung stoppt. Bei nicht bis zum Anschlag getretenem Ruder lässt sich die Robin dafür Zeit.
Dann heißt es wieder: sich orientieren, bis drei zählen und danach das Flugzeug abfangen. Es ist schon eine wichtige Erfahrung zu sehen, dass selbst bei einigen Trudelumdrehungen und der Geduldsprobe mit dem Zählen bis zum Abfangen so viel Höhe gar nicht verloren geht. Kippt man nicht gerade in Bodennähe ab, gibt es keinen Grund für überhastete und dann nicht zielführende Reaktionen. Auf dem Heimflug folgt die Kür: das Überraschen des Kursteilnehmers mit einer außergewöhnlichen Situation, in der er das Gelernte gleich anwenden kann. Mehr zum vergnüglichen Teil der Unterrichtsstunde gehört der aus 1000 Fuß Platzrundenhöhe erst kurz vor der Piste eingeleitete Riesenslip. Die Landebahn ist bis zum Start des „Sturzes“ zur Schwelle längst aus dem Blick geraten, und trotzdem setzt sich die Robin kurz hinter der Schwelle ins Gras. Der Spaß, so Oliver Wills Devise, soll bei dem Ganzen nicht zu kurz kommen.
aerokurier Ausgabe 12/2012