Einheizer aus Tirol - Neue Enteisungs-Technologie

Einheizer aus Tirol
Neue Enteisungs-Technologie

Veröffentlicht am 29.12.2016

Mit Eisansatz beim Fliegen hatte der Innsbrucker Markus Villinger eigentlich nie viel zu tun. Denn bekannt sein dürfte sein Name vor allem bei Gleitschirm- und Drachenpiloten. Bereits zwei Jahre nach seinem Einstieg in diese Art der Fliegerei gründete er 1976 seine erste Firma, die Wills Wing GmbH, mit der er sein Fluggerät selbst baute. Ziemlich gut offenbar, die Drachen des Österreichers liefen in den späten 70ern wie „geschnitten Brot“. Im Schnitt verkaufte das Unternehmen weit mehr als 400 der Fluggeräte jährlich. Anfang der 80er Jahre ließ ihm der Erfolg keine Zeit mehr, sein Studium der Chemie und Physik fortzusetzen – er gründete lieber die Villinger GmbH, die nicht nur Wills Wing als Marke weiterführte, sondern 1997 sogar den schärfsten Wettbewerber Airwave übernahm.

In der Zwischenzeit hatte sich Firmengründer Markus Villinger auch der Motorfliegerei zugewandt, 1982 zunächst mit dem Erwerb des österreichischen PPL. Im Jahr 2000 machte er bei einem Florida-Aufenthalt auch den FAA-PPL, den er 2004 um das Instrument Rating erweiterte. Spätestens nach seiner Rückkehr von dieser Reise wurde das Thema Deicing für ihn dann unumgänglich: „Wenn du bei uns in den Alpen im Winter fliegen willst und auch noch IFR, geht ohne Deicing fast nix mehr“, sagt er und wühlt auf seiner Festplatte nach eindrucksvollen Fotos vom winterlichen Innsbrucker Flughafen. Der ist die Homebase seiner N-registrierten Mooney M20K, mit der der Firmengründer 80 bis 100 Stunden im Jahr in der Luft ist – auch für Geschäftsreisen zu Kunden wie Airbus in Hamburg.

Heizbare Lacke anstatt geklebter Gummilappen

Das klassische Deicing-Verfahren an Kleinflugzeugen empfand der Vielflieger als extrem unbefriedigend, weil aerodynamisch ungünstig, schwer und störanfällig. Bei der Prop-Enteisung sind Rubber Pads Standard, zum Beispiel von Goodrich oder Hartzell – Gummilappen mit eingebetteten, elektrisch beheizbaren Drahtschleifen, die auf die Blätter aufgeklebt werden. „Die kosten Fahrt, verabschieden sich auch mal gern; und wenn der Prop ein Steinchen zieht, das die Heizlitze durchschlägt, wird’s gleich teuer“, erklärt der Entwickler. Seit 2005 befasst sich die Villinger Research & Development GmbH im Gewerbegebiet von Mieders, einem kleinen Ort im Stubaital, deshalb mit der Erforschung und Entwicklung heizbarer Lacke. Die Idee: Wenn es gelingt, eine komplett unter elektrischen Strom gesetzte Fläche zu erwärmen, wäre das gegenüber den Pads extrem ausfallsicher. Denn durchschlüge ein Steinchen den Lack, wäre der heizende Stromfluss eben nur auf der Oberfläche des Einschlags unterbrochen, würde in der übrigen Fläche jedoch weiterfließen. 

Riesenproblem dieser Idee: Hot Spots, die das System „durchbrennen“ lassen oder gar Hitzeschäden an der Trägersubstanz verursachen. „Das hast du eigentlich überall, wo du eine elektrisch leitfähige Oberfläche mit Strom aufheizt“, erklärt Villinger. „An einzelnen Stellen kumuliert materialbedingt die Temperaturentwicklung.“ Alle zuvor erprobten Materialien reagierten auf solche Hitzekumulationen mit einem Sinken des elektrischen Widerstands. Die Folge: Ausgerechnet an der zu heißen Stelle fließt noch mehr Strom, entsteht noch größere Hitze, bis zum Ausfall des Systems. An diesem Punkt seien auch die Versuche beim Fraunhofer-Institut gescheitert, die eine seiner Idee ähnliche Lösung bereits zu entwickeln versucht hätten, erzählt er. „Und das sind technisch ja nun wirklich keine Amateure“, zollt er der Forschungsgemeinschaft Respekt.

Fortan konzentrierte sich sein Betrieb darauf, einen Materialmix zu entwickeln, der sich elektrisch genau umgekehrt verhält und den Ohm’schen Widerstand mit zunehmender Temperatur ansteigen lässt. 

Widerstandsumkehr als Lösung des Problems

Denn weil Strom nun mal immer über den geringsten Widerstandsweg fließt, wäre mit einer solchen Mischung nicht nur das Hot-Spot-Problem in Schach gehalten, sondern gleichsam die Basis für ein selbstregulierendes System geschaffen. Wann genau er erstmals eine Mischung mit diesem Verhalten vor sich hatte, vermag der Tüftler ebenso wenig genau zu datieren, wie er sich heute natürlich nur sehr eingeschränkt in die Karten schauen lassen mag. Bloß, dass es Halbleiterpolymere seien, die der Entwicklung den entscheidenden Schub gegeben hätten, verrät er. Jedenfalls muss es recht fix gegangen sein. 

Heute arbeitet der Tüftler mit zwölf Angestellten, die beheizbare Oberflächenbeschichtungen für alle möglichen Anwendungen produzieren und weiterentwickeln, von Flugzeugpropellern und Tragflächen bis hin zu Helikopter- und sogar Windkraftrotoren, von Innenraumverkleidungen in Fahr- und Flugzeugen bis hin zu Heizpaneelen für den Außenbereich, beispielsweise für die Gastronomie. 2009 knüpfte er erste Kontakte zu Boeing, und er rief eine Zusammenarbeit mit Gerd Mühlbauer von der Straubinger MT-Propeller ins Leben. Inzwischen finden sich auf seiner Kundenliste fast ein Dutzend klingender Namen, die sich wie das Who‘s Who der zivilen und militärischen Luftfahrt lesen. Die Villinger GmbH hat er deshalb längst in eine Holding umgewandelt; sie fungiert als Dach für verschiedene, anwendungsbezogene Firmen. Am gemeinsamen Sitz entsteht momentan die Heizbeschichtung für ein Air-Intake-Deicing einer militärischen Turbinendrohne aus Deutschland und Heli-Rotorblätter für die US Army.

Zu viel Schwatzhaftigkeit könnte den Tiroler daher durchaus in den Fokus militärischer Dienste rücken. Die zivilen Anwendungen für die Allgemeine und die Verkehrsluftfahrt kann er inzwischen teilweise offenlegen. Etwa die für Airbus in Hamburg, für deren Maschinen er das leidige Problem der Kältebrücken in der Kabine an den Türen und Notausstiegen löst. Die dort verwendeten Heizdrahtmatten kranken an mechanischer Anfälligkeit gegen die Rollen der Boardtrolleys oder die Absätze der sie herumschubsenden Stewardessen. „Wir haben unsere flüssig auftragbaren Heizleitbeschichtungen deswegen mit Honeycomb als Träger kombiniert und damit eine deutlich höhere Resistenz gegen punktuelle Drucklasten erreicht“, erklärt Markus Villinger die Leistungen seines Betriebes für das europäische Konsortium. 

Im Außenbereich von Kleinflugzeugen kommt seine Heizbeschichtung bereits an Propellern und den Nasen von Leit- und Tragwerksflächen zum Einsatz. Zusammen mit Mühlbauer hat er sein Verfahren an den Dreiblatt-CS-Propellern der Bayern getestet, von denen früher auch einer mit den konventionellen Deicer Pads an seiner eigenen Mooney lief. Die Resultate überzeugten: „Vor sechs Jahren haben wir an einem Tag innerhalb von drei Stunden bei konstanten Klimabedingungen Testflüge mit zwei MT-12-D erflogen und bei drei verschiedenen Powersettings in 6000 Fuß mit unserer Beschichtung einen Fahrtgewinn von sechs bis neun Knoten IAS erreicht. Bei wirtschaftlichster Reiseleistung mit 147 Knoten IAS konnten wir wegen der bei unserem System wegfallenden aerodynamischen Beeinträchtigung der Propellerblätter eine Treibstoffersparnis von bis zu 15 Prozent nachweisen.“ 

Seit diesen Tests haben Villinger und Mühlbauer zehn Kleinflugzeuge mit dem neuen Prop-Deicing ausgestattet, mehrere tausend ausfallfreie Flugstunden sind dabei zusammengekommen. Noch in diesem Jahr wird die erste Lancair mit dem neuen System auch an den Flächen in die Luft gehen. Weitere sollen bald folgen, wie Villinger uns dazu vor seiner Abreise Anfang November in die USA erzählt und Fotos vom Einsatz der neuen Flugzeuge verspricht. „Viele amerikanische Lancairs kommen als Homebuilts in die Luft, das bot den Einsatz an diesen Maschinen natürlich zulassungsrechtlich an“, erklärt er die Zusammenarbeit. 

Verlängerte Werkbank der großen Hersteller

In der Zulassung sieht er deshalb auch keine unüberwindbare Hürde, setzt dazu aber auf solche Kooperationen mit Flugzeug- und Propellerherstellern: „Für uns als kleiner Zwölf-Mann-Entwicklungsbetrieb ist so eine Part-21-Zertifizierung kaum zu stemmen, deshalb ist es sinnvoller, quasi als verlängerte Werkbank der Systemhersteller als OEM-Betriebe zu fungieren.“ Denn die Original Equipment Manufacturers in der GA und besonders in der Verkehrsluftfahrt haben für die Zulassungsverfahren bei EASA und FAA natürlich ganz andere Ressourcen.

Längst haben Markus Villinger und seine Truppe deswegen Airbus und Boeing am Haken. Für beide sind im Wiener Klima-Wind-Kanal und einem US-Kältelabor schon ausgiebige Tests gelaufen. Die Laminarheizungen aus Tirol haben dabei alle Herausforderungen der einschlägigen Luftfahrtanforderungen einschließlich CS 25 DO-160 bestanden. Gerade für die Verkehrsluftfahrt ist die neue Technologie daher eine reizvolle Perspektive, denn die Airlines arbeiten unter hohem Kostendruck. Für sie hat Villinger, basierend auf seinen Versuchen, die mögliche Spritersparnis durch sein System an den Propellern der alten Tyrolean-Dash-8-400-Flotte hochgerechnet: Bei deren jährlichen 2500 Flugstunden wäre der heimische Carrier mit 205 Tonnen weniger Jet fuel zurechtgekommen. 

Noch größere Effizienzgewinne sieht der Entwickler bei den Jets, die einen Eisansatz bislang mit „bleed air“ verhindern, dem Einströmen von heißer Zapfluft aus den Triebwerken unter gefährdete Oberflächen. Weil das für die Zulassung auch unter Notfallbedingungen – zum Beispiel dem Ausfall eines Triebwerks – funktionieren müsse, seien über den Antrieb hinaus deutlich höhere Turbinenleistungen nötig. 

Spritersparnis und ein Plus an Sicherheit

Mit dem Spritsparpotenzial seines Verfahrens geht somit auch ein Sicherheitsgewinn einher. Denn während für Zapfluft vereisungsprophylaktische Verfahren die Regel sind, ließen sich in Eiskanalversuchen sogar schon dickere Eisschichten schnell von Flügelnasen abschmelzen. Und weil die Leistungsaufnahme der Laminarheizungen im Vergleich zu konventioneller elektrischer Beheizung deutlich geringer ist, ergeben sich auch für das Enteisen bei Kleinflugzeugen mit ihren schwächer ausgelegten Bordnetzen völlig neue Perspektiven. Selbst unter massiver mechanischer Belastung zeigte das System keine Leistungseinbußen, wie durch Anbohrversuche der Laminarheizflächen bereits nachgewiesen wurde. 

Die Überlegenheit seines Systems musste der Tiroler zuletzt dem amerikanischen Militär nachweisen. Das verlangte für die Sicherheit einer Rotorheizung zum Einsatz in großen Flughöhen eine maximale Leistungsaufnahme von vier Watt je Quadratzentimeter bei möglichst geringem Gewicht. Die getestete maximale Leistung auf dieser Fläche beträgt zwölf Watt. Damit die Beschichtung dabei nicht schmilzt, bedarf es allerdings eines 0,1 Millimeter starken Auftrags, der je Quadratzentimeter dann 0,015 Gramm wöge – 150 g/m2 also. Für die von den Amerikanern geforderten maximalen vier Watt ging Villinger aber nur auf einen halben Zehntel Millimeter herunter, um noch genügend Leistungsreserven zu haben. Mit nur 0,008 g/cm2 Materialauftrag, 80 g/m2 also, ging der Rotor deswegen in eine Kältekammer – und sprengte alles Eis im Nu ab. Die Militärs in den USA waren begeistert. 

Auch zivil lässt er deswegen jetzt einen Testballon dort mit den Lancairs steigen, denn mit 75 Prozent des Weltmarktes im Kleinflugzeugabsatz sind die entscheidenden Impulse zur Verbreitung seines Systems in den USA zu erwarten. 

Daheim konnte sein System schon im Kabinenboden einer gewerblich betriebenen Piper Malibu mit angenehmen Temperaturen überzeugen, und in den USA hat der Stubaier mit der Invercon LLC aus Pennsylvania auch schon einen Vertriebspartner für seine Marke „Laminar De-Ice“ für die Tragflächenanwendung gefunden. Bis eine neue Entwicklung auch auf den Markt diesseits des großen Teiches schwappt, vergehen meist nur wenige Jahre.

aerokurier Ausgabe 12/2016