Tragschrauber-Forschung beim DLR

Am Limit
Tragschrauber-Forschung beim DLR

Zuletzt aktualisiert am 09.04.2015

Tragschrauber-Forschung beim DLR

Wenn es um Tragschrauber geht, ist Prof. Dr.-Ing. Stefan Levedag, Direktor des Instituts für Flugsystemtechnik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Braunschweig, in seinem Element. Begeistert erzählt der Wissenschaftler von seinen ersten Begegnungen mit den ultraleichten Drehflüglern, lange bevor diese vor nicht ganz zehn Jahren in Deutschland zugelassen wurden. Diese Leidenschaft hat ihn bis heute nicht losgelassen. Im Gegenteil: Inzwischen haben er und seine Mitarbeiter neben dem emotionalen auch ein höchst wissenschaftliches Interesse an Gyrokoptern entwickelt. Stefan Levedag: „Wir haben den Tragschrauber als Fluggerät entdeckt, bei dem es noch viele offene Fragen gibt. Das ist für uns ein Fest!“

Das Flugprinzip der Tragschrauber, basierend auf der Autorotation, ist natürlich bekannt. Der Pionier Juan de la Cierva etwa baute schon in den 1920er Jahren seinen ersten „Autogiro“. Mit dem Auftritt von „Little Nellie“ im James-Bond-Streifen „Man lebt nur zweimal“ im Jahr 1967 ist die Existenz von Tragschraubern auch bei der breiten Masse angekommen. In Deutschland machen sie den ultraleichten Dreiachsern bei den Zulassungszahlen Konkurrenz. Wissenschaftliche Studien über die fliegerischen Spezialitäten dieser Dreh­flügler suchten Levedag und seine Mitarbeiter beim DLR jedoch vergebens.

Mehrere Unfälle, bei denen Seitengleitflüge (Slip) eine Rolle gespielt haben könnten, sind bis heute noch nicht abschließend geklärt worden, weil fundierte Kenntnisse über die physikalischen Vorgänge am Tragschrauber in Grenzsituationen fehlen. Die Verbände DAeC und DULV strichen den Seitengleitflug daraufhin vorsichtshalber aus ihrem Ausbildungsprogramm.

Flugeigenschaften wissenschaftlich vermessen

Höchste Zeit, die Sache wissenschaftlich anzupacken. Ein vom Luftfahrtstandort Niedersachsen gefördertes Forschungsprogramm wurde beim DLR ins Leben gerufen. „Wir wollten die Flugphysik endlich verstehen, also probierten wir‘s aus“, so Jörg Seewald. Diesen Satz sagt einer, der Tragschrauber so gut kennt wie nur wenige andere Piloten. Der Ingenieur arbeitet beim DLR, ist beim DULV verantwortlich für die Musterzulassungen der Tragschrauber und blickt als Fluglehrer auf mehrere tausend Stunden Erfahrung auf Tragschraubern zurück. Kurzum: Er ist der Richtige, um Grenzflugsituationen zu testen.

Der Startschuss für das Programm fiel 2009, als das DLR von der Firma AutoGyro in Hildesheim einen MTOsport  für Forschungszwecke übernahm. Ziel war es, diesen Tragschrauber im Rahmen einer gründlichen Flugerprobung exakt zu vermessen. Die dabei gewonnenen Daten flossen in ein mathematisches Flugmodell ein, das Grundlage für einen durchweg realistischen Tragschrauber-Simulator ist.

Neben den Piloten bedurfte es weiterer schlauer Köpfe hinter den Kulissen. Dr. Holger Duda etwa ist Leiter der Abteilung Flugdynamik und Simulation beim DLR, er überträgt die aus den Flugversuchen gewonnenen Daten in das mathematische Modell für die Simulatorsoftware. Für die Hardware zeichnet das Braunschweiger Unternehmen Simtec verantwortlich. Luft- und Raumfahrt-Ingenieurin Insa Pruter vom DLR begleitet das Projekt mit einer praxisbezogenen Analyse: In ihrer Dissertation untersucht sie, ob und wie das Training im Simulator Flugschüler bei der Tragschrauberausbildung unterstützen kann.

Thomas Kiggen, Fluglehrer und einer der Vorreiter in der deutschen Tragschrauberszene, absolvierte im Frühjahr 2010 die erste Phase der Fluger-probung. Damals rüstete das DLR den Tragschrauber mit sensibler Sensorik aus, die den kompletten hinteren Sitz belegte. Knüppel- und Pedalkräfte wurden vermessen, Drehzahlen, Lagewinkel, Drehraten und Lastvielfache untersucht. Kiggen flog binnen zwölf Stunden vorwiegend Standardmanöver, die dazu dienten, ein fliegerisches Grundmodell zu entwickeln.

Flüge am Limit

Ans Eingemachte ging es, als Jörg Seewald im Herbst 2012 ins Cockpit stieg. Seine Mission war es, Grenzsituationen zu erfliegen und somit wissenschaftliches Neuland zu betreten. Diesmal half die auf Vermessungen im Rahmen von Flugerprobungen spezialisierte Firma messWERK. Ein Team um Dr. Matthias Cremer rüstete den Tragschrauber mit noch umfangreicherer Sensorik aus als in den 2010er Versuchen. Kein Bereich des Drehflüglers sollte bei den folgenden Flügen undokumentiert bleiben.

Wiederum wurden Knüppel- und Pedalkräfte gemessen, ebenso Drehzahlen und Temperaturen. Sensoren, Staurohre und ein Nasenbaum erfassten Strömungsverhältnisse, Lastvielfache, die Lage des Tragschraubers sowie die Roll-, Nick- und Gierrate. Den Schlagwinkel des Rotors protokollierte ein laserbasiertes System am Rotorkopf. „Jetzt sind uns alle Parameter bekannt, die auftreten, wenn der Pilot eine bestimmte Steuereingabe macht“, sagt Holger Duda.

Flüge am Limit bringen den Routinier Jörg Seewald normalerweise nicht aus der Ruhe – bei den Versuchen im Herbst 2012 kam er doch ein wenig ins Schwitzen. Lastwechsel, Flüge mit und ohne Motorkraft, Drehungen, Kurven und Spiralen standen auf dem Programm, geflogen in unterschiedlichen Höhen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Als besonders extrem erlebte Seewald den Seitengleitflug. „Ich habe Schiebewinkel von 60 Grad erflogen. In einem Flächenflugzeug sind etwa 20 Grad normal. Dabei hat es im offenen Cockpit ganz schön gezogen und der Blickwinkel in Flugrichtung ist ungewohnt. Das Steuerverhalten ändert sich, die Dämpfung lässt nach, der Tragschrauber wird weicher.“ Zehn Stunden hat Seewald in Fluglagen verbracht, die Piloten normalerweise meiden.

Ziel ist ein professioneller Tragschrauber-Simulator

Kritisch sei keines der vom Profi geflogenen Manöver gewesen, zumindest rein wissenschaftlich betrachtet. Holger Duda zeigt einige Flüge in einem Animationsfilm, dem die Messwerte zugrunde liegen. Alle Parameter bleiben selbst beim extremen Slip im grünen Bereich. „Unsere Untersuchungen zeigen aber, dass der extreme Seitengleitflug mit dem Tragschrauber hohe Anforderungen an  den Piloten stellt, sowohl hinsichtlich Beurteilung der Fluglage als auch hinsichtlich Feinfühligkeit der Steuereingaben“, sagt Jörg Seewald. Aufgrund der reduzierten Flugstabilität und der geringeren Rückmeldung des Knüppels an den Piloten können im extremen Seitengleitflug bei Überreaktionen am Steuerknüppel unkontrollierte Flugzustände nicht ausgeschlossen werden.

Ein Teil der gewonnenen Daten ist bereits in die Simulationssoftware geflossen – zunächst wurden die Daten für Standardsituationen aus der ersten Projektphase verwendet. Die von Jörg Seewald erflogenen Grenzbereiche sollen in den nächsten Arbeitsschritten eingepflegt werden. Dann lassen sich in der virtuellen Welt auch diese Grenzbereiche besser nachbilden als bisher.

Die Vorteile eines Simulators liegen auf der Hand: Vorgänge lassen sich ganz gezielt üben, der Flugschüler ist unabhängig vom Wetter und es ergibt sich eine Zeit- und Kostenersparnis.

Ein Prototyp des Simulators steht in den DLR-Hallen in Braunschweig. Die Darstellung erfolgt über einen Flachbildfernseher, Knöpfe und Instrumente werden auf einem berührungsempfindlichen Bildschirm dargestellt. Ausgereift ist im Gegensatz zum spartanischen Drumherum die Software, die auch im großen Bruder des DLR-Simulators bei Simtec Verwendung findet. Die realistische Landschaftsdarstellung basiert auf Luftbildaufnahmen, der Knüppel gibt gutes Feedback und die Vibrationen des Rotors sind schon während der Vorrotation in den Händen spürbar.

Dieser große Simulator für professionelle Ansprüche verfügt über ein echtes MTOsport-Cockpit mit animierter Avionik und 180-Grad-Projektion. Simtec hat das Gerät auf der AERO 2012 vorgestellt und dann für einige Zeit in der Flugschule von Thomas Kiggen in Hildesheim installiert. Fünf Beamer und acht PCs sorgen für ein realistisches Flugerlebnis. Ruderkräfte werden originalgetreu simuliert, und auch eine Full-Motion-Plattform lässt sich bei Bedarf integrieren.

Simulator kann die Ausbildungskosten senken

Dass Flugschüler vom Training im Simulator profitieren, wird Insa Pruter in Kürze mit ihrer Doktorarbeit belegen. Sie hat Schüler begleitet, die teils mit, teils ohne den Simulator ausgebildet wurden. Ihr vorläufiges Fazit: „Durch das Training auf dem DLR-Simulator können gerade im ersten Drittel der Ausbildung Flugstunden eingespart werden.“ Standards wie etwa der Start könnten in der virtuellen Welt optimal trainiert werden. Komplexere Übungen wie zum Beispiel eine Ziellandeübung hätten sich zumindest im kleinen Simulator schwierig gestaltet – hierfür sei ein größerer Sichtbereich notwendig. „Hier kommt dann der große Simtec-Simulator ins Spiel.“

Der Hersteller Simtec sieht somit durchaus einen Markt für Tragschraubersimulatoren. „Wir denken da an Asien, aber auch an Deutschland“, sagt Entwicklungsingenieur Philipp Hellwig. Zwar sei der Simulator in den UL-Ausbildungsvorschriften nicht vorgesehen, aber eine Ergänzung der Schulung über die gesetzlich vorgeschriebenen Mindeststunden hinaus sei durchaus vorstellbar.

Eine Hürde dürfte derzeit noch der Preis sein – rund 200 000 Euro kostet der Simulator und dürfte damit das Budget der meisten Flugschulen sprengen. „Wir arbeiten gerade an einer abgespeckten Version, die wir deutlich günstiger anbieten werden“, sagt Hellwig.

aerokurier Ausgabe 05/2013