Das Wrack der Cessna 172, die vor über einem Jahr in der Nordsee verschwunden ist, wurde vor wenigen Tagen unweit der schottischen Shetland-Inseln von einem Fischerboot entdeckt. Menschliche Überreste, die aus dem Cockpit des Wracks geborgen werden konnten, geben nun auch Gewissheit über das Schicksal des Piloten. Ermittler der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) hatten in dem Fall zusammen mit ihren Kollegen aus Dänemark, Norwegen, Großbritannien, der Schweiz und den USA ermittelt, da das betroffene Flugzeug mit deutscher Kennung über internationalen Gewässern verschwunden war.
An jenem Tag im Frühherbst des vergangenen Jahres chartert der Pilot am Flugplatz Uetersen/Heist nahe Hamburg eine Cessna 172S. Dem Halter sagt er, dass er nach Süddeutschland fliegen wolle, um in Bayreuth einen Verwandtschaftsbesuch zu machen. Für den nächsten Tag habe er den Rückflug geplant, so der Pilot. Das Flugzeug sei gegen 18 Uhr wieder am Startflugplatz.
Der 62-jährige Pilot hat einen soliden fliegerischen Werdegang vorzuweisen: Seine Privatpilotenlizenz hat er bereits vor 25 Jahren erworben, seit 2005 besitzt er das Instrument Rating. Außerdem besitzt er seit 2008 eine Klassenberechtigung für mehrmotorige Flugzeuge. Seit April 2013 ist er darüber hinaus Inhaber einer Berufspilotenlizenz (CPL(A)) sowie seit 2020 einer Hubschrauberpilotenlizenz PPL(H). Seine Gesamtflug-erfahrung beläuft sich auf rund 1200 Stunden, etwa 316 davon auf zweimotorigen Flugzeugen.
Am frühen Vormittag des 30. September wird die Cessna mit 92 Litern Kraftstoff vollgetankt und an den Piloten übergeben. Um 10:27 Uhr Ortszeit steht der Hochdecker auf der Graspiste 27 von Uetersen. Auch der Flugleiter geht zu diesem Zeitpunkt von einem privaten VFR-Überlandflug nach Bayreuth in Oberfranken aus.
Doch der Pilot hat offenbar etwas völlig anderes im Sinn: Kurz nach dem Start, noch bevor das Flugzeug die Elbe südlich von Hamburg überquert, dreht er in einer 180-Grad-Kurve auf einen nordwestlichen Kurs, obwohl der angegebene Zielfluglatz Bayreuth etwa 143 Nautische Meilen in südsüdöstlicher Richtung liegt. Die Cessna hält den neuen Kurs und wird auf dem Radar konstant mit dem VFR-Transpondercode 7000 angezeigt.
Mysteriöse Kurswechsel
Kurz nach 12 Uhr, rund eineinhalb Stunden nach dem Start, dreht der Pilot auf einen Kurs in nördliche Richtung, auf 330 Grad. In einer Höhe von 6200 Fuß AMSL fliegt er nun in den dänischen Luftraum ein. Keine zwei Stunden später erfasst die norwegische Flugsicherung das Flugzeug mit unverändertem Kurs im internationalen Luftraum. Von 14:47 bis 14:52 Uhr steigt die Cessna auf 8500 Fuß mit Kurs Nordnordwest. Dann geschieht etwas Merkwürdiges: Das Flugzeug geht gegen 16:38 Uhr in einen Sinkflug und verliert etwa 1000 Fuß Höhe pro Minute. In dieser Flugphase verlässt es den nördlichen Kurs zunächst nach rechts, dann folgen zahlreiche kleinere Kurswechsel. Um 16:45 Uhr, rund 70 Nautische Meilen südöstlich der schottischen Shetlandinseln und acht Minuten nach Beginn des Sinkfluges erfasst die norwegische Flugsicherung das Flugzeug in 1700 Fuß. Die Position ist zu diesem Zeitpunkt etwa 500 Nautische Meilen nordwestlich des Startplatzes. Die Maschine ist jetzt sechs Stunden und 19 Minuten in der Luft. Es ist das letzte Radarsignal der Cessna, die danach von den Radarbildschirmen verschwindet. Seither gilt die Maschine samt ihrem Piloten als verschollen. Bis zu diesem Zeitpunkt haben mehrere Radaranlagen fast ununterbrochen das Transpondersignal des Flugzeugs erfasst. Zu keiner Zeit bestand aber Funkkontakt mit der Flugsicherung oder einem Fluginformationsdienst von einem der Länder, deren Lufträume die Cessna bis zu ihrem Verschwinden durchflog. Weder Dänemark noch Norwegen konnte eine Landung der Maschine registrieren.
Am 1. Oktober 2023 meldet der Halter Flugzeug und Pilot als vermisst. Am selben Tag leitet das deutsche Aeronautical Rescue Coordination Centre (ARCC) eine Suchaktion per Schiff und Flugzeug in deutschen Gewässern ein. Der Grund: Die Leitstelle geht zunächst davon aus, dass die Radarspur bereits um 12:25 Uhr deutlich weiter südlich endete.
Suche abgebrochen
Die norwegische Flugsicherung meldet aber am 2. Oktober, dass die Cessna vor der Küste des Landes vom Radar erfasst worden sei. Daraufhin entsenden auch die britischen und norwegischen Such- und Rettungsdienste je ein Schiff und ein Flugzeug zur letzten Position der Cessna südöstlich der Shetland-Inseln. Am Abend wird die Suche aber erfolglos abgebrochen.
Nun ist das Wrack mehr als ein Jahr später von einem schottischen Fischerboot nordöstlich von Lerwick auf den Shetland-Inseln in der Nordsee gefunden worden. Die Trümmerteile der Cessna 172 verfingen sich offenbar im Schleppnetz des Bootes. Im Wrack wurden nach Angaben der Polizei auch die menschliche Überreste des Piloten gefunden.
Ähnliche Fälle in der Vergangenheit
In der Vergangenheit sorgten wiederholt Berichte von verschollenen oder havarierten Flugzeugen für Aufsehen, bei deren Absturz man eine Selbstmordabsicht des Piloten in Betracht ziehen musste. Traurige Berühmtheit hatte der Germanwings-Flug 9525 am 24. März 2015 erlangt, bei dem einer der Piloten den Airbus A320 vermutlich absichtlich an einem Bergmassiv in den französischen Alpen zerschellen ließ. Alle 150 Menschen an Bord starben damals.
Für einen Suizid gibt es bei dem über der Nordsee verschollenen Cessna-Piloten keine eindeutigen Beweise, wohl aber starke Indizien. Offenbar hatte er seine Frau zunächst als Passagierin eingeplant. Erst kurz vor dem Start sagte er ihr aus unbekannten Gründen ab. Dann flog er ohne entsprechende Ausrüstung für Flüge über dem offenen Meer, ohne einen Flugplan aufzugeben und ohne jemanden über seine Absicht zu informieren, hunderte Kilometer über die Nordsee. Auch einen Notruf wegen technischer Probleme oder wegen einer anderen Störung setzte er nicht ab. Der Ablauf und die Planung des Fluges sowie das Verhalten des Piloten sprechen dafür, dass ein absichtlich herbeigeführter Absturz die wahrscheinlichste Unfallursache ist.