Kurator Andreas Hempfer nennt ihn den Heiligen Gral der Luftfahrt, Restauratorin Charlotte Holzer sagt, er sei eine Reliquie. Wenn man ihn vor sich sieht, denkt man aber eher an das Turiner Grabtuch als an ein Flugzeug. Dennoch: Das unscheinbare Stück Stoff, dass die Restauratorin mit im wahrsten Sinne des Wortes mit Samthandschuhen anfasst, ist Luftfahrtgeschichte, denn er gehört zu einem Normalsegelapparat von Otto Lilienthal, und zwar einem ein Original aus der Werkstatt des Flugpioniers. Lilienthal ging mit seinen in den 1890er Jahren durchgeführten Gleitflügen als derjenige in die Geschichte ein, der sich erstmals systematisch und wissenschaftlich mit der Problematik "Fliegen schwerer als Luft" auseinandersetzte und als erster Mensch wiederholt und kontrolliert mit einem Fluggerät in die Luft ging. Dem Normalsegelapparat kommt aber noch eine andere Luftfahrthistorische Bedeutung zu. Da Lilienthal seinen Gleiter auf Bestellung fertigte, kann er als das erste in Serie gefertigte und als Produkt vermarktete Flugzeug der Geschichte gelten. Damaliger Preis: 500 Mark.
Ausstellungsreif herrichten
Das Deutsche Museum plant nun, den Normalsegelapparat wieder so herzurichten, dass er ausgestellt werden kann – kein einfaches Projekt. Das Besondere daran: Besucher der Flugwerft Schleißheim können sich selbst ein Bild der Restaurierungsarbeiten machen, sobald das Museum nach der Corona-Krise seine Türen wieder öffnet. Der Gleiter des Deutschen Museums ist vermutlich derjenige, mit dem Lilienthal 1894 Flüge vom "Fliegeberg" in Berlin-Lichterfelde absolvierte – und eins von nur fünf noch existierenden Exemplaren weltweit. Was diesen Gleiter so einzigartig macht: Er hat noch große Teile der Originalbespannung, ist nie umfassend "repariert" worden. Und so kann man an diesem Stück ganz genau sehen, wie Lilienthal mit welchen Materialien gearbeitet hat. "Im Grunde ist das genauso ein Forschungs- wie ein Restaurierungsprojekt", sagt Charlotte Holzer, die als Textilrestauratorin für den Stoff des Gleiters zuständig ist. "Es sollen alle Spuren der Objektgeschichte konserviert werden."
Das Museum will den Gleiter eben nicht wieder zu einem Flugzeug zusammenbauen, sondern das Original erhalten. Nach mehr als 125 Jahren ist das Fluggerät in schlechtem Zustand. Die Flügel sind gerupft, die Weidenruten, auf die der Stoff montiert war, sehen zum Teil aus wie ein Schwamm – so sehr hat dem Objekt der Holzfraß durch Insekten zugesetzt. "Anfangs ist es so etwas wie ein gigantisches Puzzle", sagt Charlotte Holzer. Die Stoffteile aus Baumwolle müssen an genau die Stellen, wo sie hingehören. Die Flügel des Gleiters liegen ausgebreitet vor Holzer auf zwei großen Tischen. Sie arbeitet in einem abgetrennten Raum der Flugwerft, an dem der Gleiter vor Licht geschützt und der per Klimaanlage auf 18 Grad heruntergekühlt ist. "Das ist gut für das Exponat, aber auf die Dauer etwas kalt für uns für uns", sagt die Expertin, die mit zwei anderen Restauratoren zusammen arbeitet, wobei Quirin Küchle für das Holz und Mathias Winkler für die Metallteile des Gleiters zuständig sind. Der Stoff wird gereinigt, Drähte kommen wieder an die Stelle, an der sie von Lilienthal ursprünglich zur Befestigung vorgesehen waren.
Im historischen Kontext zeigen
Zwei Jahre soll die Restaurierung dauern, und dabei geht es vor allem um die Frage, wie man den Gleiter so herrichtet, dass man ihn ausstellen kann. Welche Belastung verträgt der Stoff, wie viel die Weidenruten? Holzer hat – zumindest im übertragenen Sinne – bereits Erfahrungen mit Werkstoffen, die in der Luftfahrt eingesetzt werden, wenngleich aus einem gänzlich anderen Projekt. So restaurierte sie das "Glasfaserkleid", ein ebenso besonderes Exponat des Museums wie der Lilienthalgleiter. Das Kleid wurde von der Libbey Glass Company aus Toledo, Ohio, für die Weltausstellung in Chicago 1893 hergestellt und besteht zum größten Teil aus Glasfaser. Doch ihre neue Aufgabe scheint noch größer.
"Vor etwa einem Jahr habe ich den Gleiter zum ersten Mal gesehen. Er hat mich gleich fasziniert", sagt sie. Gemeinsam mit ihren Kollegen weckt sie nun das Exponat aus seinem Dornröschenschlaf. Jahrzehntelang hatte der Gleiter im Depot gelegen. Nach Lilienthals frühem Tod kam der Flugapparat 1906 ins Deutsche Museum und war bis in die frühen 1940er Jahre dauerhaft ausgestellt. Er litt unter der Sonneneinstrahlung und den Klimaschwankungen in der Luftfahrthalle. Der Bombardierung des Museums entging er, da er vor den Bombennächten 1944 ins Depot geschafft worden war. Dort wurde er unter unzulänglichen Bedingungen aufbewahrt und verfiel binnen weniger Jahre. Seitdem ist er nie wieder ausgestellt worden – bis auf das Gestellkreuz aus Holz und Metall, in dem Lilienthal früher hing und per Gewichtsverlagerung den Flügel steuerte. Dieses liegt heute in einer Vitrine in der Flugwerft. Sowohl in der Flugwerft als auch auf der Museumsinsel stellt das Museum derzeit nur Nachbauten des Gleiters aus.
Zentrales Exponat
Für Kurator Andreas Hempfer ist das aber kein Zustand. Er will den "Heiligen Gral der Luftfahrt" wieder herzeigen: "Der Original-Lilienthalgleiter soll wieder als zentrales Exponat in der Ausstellung ,Historische Luftfahrt‘ auf der Museumsinsel zu sehen sein", sagt Hempfer. In einer klimatisierten Vitrine mit Stützkonstruktion, Licht- und Staubschutz, um ihn vor weiterem Verfall zu bewahren. Hempfer schwebt eine Inszenierung vor, die die Situation auf dem Berliner Fliegeberg nachstellt: Er würde gern Lilienthals dortigen Schuppen nachbauen lassen. Nur, wenn ein Besucher den Schuppen betritt, soll eine Lampe angehen und das Lilienthal-Original sichtbar machen. "Am Dach des Schuppens könnte man unseren Gleiter-Nachbau so montieren, als würde der Flugpionier gerade von dort abheben", erläutert Hempfer seine Idee, deren Realisierung allerdings noch einige Jahre dauern dürfte. Nicht zuletzt aufgrund der anspruchsvollen Restaurierung des Originals.