Nichts dem Zufall überlassen – diesem Ratschlag möchte man besonders bei der Flugplanung nicht widersprechen. Und doch kann der Zufall trotz aller möglichen Vorkehrungen ein übler Gegner sein. Er lauert gerne dort, wo man ihn nicht erwartet. Bei der Vermeidung gefährlicher Annäherungen denken viele Piloten in erster Linie an den Nahverkehrsbereich von Flughäfen oder die Platzrunde an kleineren Pisten. Im Reiseflug scheint das Risiko vergleichsweise gering. Der Untersuchungsbericht BFU 3X163-12 der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung führt jedoch deutlich vor Augen, dass die Gefahr auch beim Überlandflug sehr präsent ist.

Gute Bedingungen für Sichtflug
Es ist ein trocken-kalter Tag im Winter 2012. Die Bedingungen für VFR-Flüge über dem Rhein-Main-Gebiet, der Wetterau und dem Taunus sind gut: 15 bis 20 Kilometer Sicht, kein Niederschlag. Der DWD stuft die GAFOR-Gebiete 42 und 45 mit „Charlie“ ein: Wolkenuntergrenzen von 5000 Fuß über der Bezugshöhe, über zehn Kilometer Flugsicht.
Über der Wetterau sind an diesem 8. Dezember zwei Einmots unterwegs. Eine Piper PA-32-301 Saratoga ist am Nachmittag vom Verkehrslandeplatz Stadtlohn im Münsterland gestartet. Außer dem Piloten und Eigentümer der Maschine sind vier Passagiere an Bord. Die PA-32 nimmt Kurs auf Aschaffenburg in Unterfranken. Die zweite Einmot, ebenfalls ein Tiefdecker, Typ Robin DR 400-180 Regent, ist etwa eine halbe Stunde nach der PA-32 vom Verkehrslandeplatz Koblenz-Winningen gestartet. Zwei Fluggäste und die Pilotin sitzen in der Kabine. Ihr Ziel ist der Flugplatz Reichelsheim in der Wetterau. Sowohl die DR 400 als auch die PA-32 sind auf dem Weg nach Hause zu ihren Heimatplätzen.

Annäherung bleibt unbemerkt
Um 16:03 Uhr fliegt die PA-32 auf Kurs 160 Grad in Richtung Südost, ihre Position ist nordwestlich der Gemeinde Wölfersheim in 3500 Fuß Reiseflughöhe. Exakt in derselben Höhe, in einer Position nordöstlich der Stadt Bad-Nauheim, ist die DR 400 unterwegs. Die Pilotin dreht zu diesem Zeitpunkt aus Südwesten kommend in einer Rechtskurve ebenfalls Richtung Südost, Kurs 120 Grad. Sie ist jetzt bereits im Anflug auf den Flugplatz Reichelsheim. Der Abstand zwischen beiden Flugzeugen beträgt in dieser Flugphase 2,3 Nautische Meilen. Doch weder die DR-400-Pilotin noch der Piper-Pilot sehen die jeweils andere Maschine aus ihrem Cockpit. Der Piper-Pilot hat zwar erst 57 Stunden auf Motorflugzeugen in seinem Flugbuch gesammelt, als aktiver Segelflieger kommt er aber auf eine Gesamtflugerfahrung von über 200 Stunden. Im Cockpit der PA-32 hat der 40-Jährige seit seiner PPL-Prüfung weniger als sechs Stunden verbracht, nur 14 Minuten davon ohne Fluglehrer. Der weibliche Fluggast neben ihm ist gerade in der Flugausbildung und hat die Theorieprüfung bereits bestanden. Möglicherweise unterstützt sie den PIC bei der Verkehrsbeobachtung, bemerkt aber die sich nähernde DR400 nicht.

Stehende Peilung
Mit mehr als 580 Stunden im Flugbuch hat die Pilotin der DR 400 deutlich mehr Erfahrung. Die 33-Jährige ist ebenfalls Segelfliegerin. 136 Flugstunden hat sie ohne Motor gesammelt. Rechts neben ihr sitzt zudem ein erfahrener Verkehrspilot, er hat die Lehrberechtigung für PPL(A) und ist ebenfalls langjähriger Segelflieger. Sehr wahrscheinlich unterstützt er die Pilotin bei der Luftraumbeobachtung. Doch auch er erkennt die Gefahr nicht. Die beiden Flugzeuge nähern sich einander zu diesem Zeitpunkt mit einer Geschwindigkeit von rund 90 Knoten, in einem Winkel von etwa 40 Grad. Das Fatale daran: Durch die beinahe gleiche Flugrichtung und die Annäherung im spitzen Winkel bewegen sich die Flugzeuge zueinander scheinbar nicht. Die Wahrnehmung ist für die Piloten daher sehr schwierig, da das Auge unbewegte Punkte deutlich weniger wahrnimmt als bewegte.

Robin meldet Landeanflug
Tatsächlich aber fliegen beide Maschinen mit hoher Geschwindigkeit aufeinander zu. Um 16:03:28 Uhr ist der Abstand bereits auf 1,02 Nautische Meilen geschrumpft. Es bleiben jetzt nur noch 39 Sekunden bis zur Kollision. Doch auch kein anderer der Insassen sieht die Gefahr kommen. Die DR 400 nimmt nun Funkkontakt mit dem Flugplatz Reichelsheim auf, um die geplante Landung zu melden. Es ist der rechts sitzende Berufspilot, der den Sprechfunk übernommen hat. Die DR 400 ist nur noch drei Nautische Meilen von der Schwelle entfernt – und 0,4 Nautische Meilen von der PA-32, zehn Sekunden bis zum Crash. Aber noch immer bemerkt niemand die nahende Katastrophe, sie scheint unaufhaltsam.

Tödlicher Zusammenstoß
Um 16:04:07 Uhr schlägt die DR 400 leicht unterhalb der Piper in deren Fahrwerk und Rumpf ein. In Bruchteilen von Sekunden werden beide Flugzeuge durch den Aufprall zerstört und stürzen nahe der Gemeinde Wölfersheim-Melbach zu Boden. Es muss für die Piloten und Passagiere eine Katastrophe wie aus dem Nichts sein. Die Insassen haben nicht die geringste Überlebenschance. Acht Menschen sterben durch den Zusammenstoß der beiden Flugzeuge. Die DR 400 schlägt unweit der Kollisionsstelle auf einem Acker auf. Das Trümmerfeld um das Wrack herum ist deutlich größer als das der PA-32, die 600 Meter entfernt aufschlägt. Die Piper bohrt sich dabei fast senkrecht in den Boden. Der vordere Rumpf mit Cockpit und Triebwerk steckt über zwei Meter tief in der Erde.

Großer Aufwand bei der Unfalluntersuchung
Bei den Ermittlungen der BFU leistet das Bundeskriminalamt Amtshilfe. Aus Radar- und GPS-Daten rekonstruieren die Ermittler mit Hilfe einer Spezialsoftware den Unfallhergang in einer Echtzeit-animation. Dabei werden Annäherungsszenarien aus verschiedenen Perspektiven erstellt. Im Fokus der Untersuchungen steht die potenzielle Wahrnehmung des jeweils anderen Flugzeugs bei der Annäherung kurz vor der Kollision. Dazu nehmen insgesamt 17 Probanden-Besatzungen an einer Simulation teil. Ergebnis des Gutachtens: Im Durchschnitt nehmen die Probanden den Konfliktverkehr 9,2 Sekunden vor der Kollision wahr, teilweise sogar erst zwei Sekunden vor dem Zusammenstoß.

Fatales Zusammenwirken mehrerer Umstände
Die Gutachter stellen auf Basis dieser experimentellen Untersuchung fest, dass „selbst unter den optimistischen Modellannahmen (...) das Konzept ‚Sehen und gesehen werden‘ hier an seine Grenzen gestoßen“ sei. Weiter heißt es in dem Gutachten wörtlich: „Nachdem die beiden am Unfall beteiligten Luftfahrzeuge auf Kollisionskurs eingedreht sind, hätte der Unfall nach diesen Erkenntnissen nicht zuverlässig verhindert werden können.“
Nicht in der Simulation berücksichtigt sind mehrere negativ wirkende Umstände des tatsächlichen Unfallgeschehens: Zum einen war die Sicht des Piper-Piloten durch die tiefstehende Sonne am Horizont kurz vor Sonnenuntergang stark beeinträchtigt. Auch die Geländestruktur wirkte sich ungünstig auf die gegenseitige Wahrnehmung aus: Aus dem Cockpit der PA-32 war die DR 400 vor der durch den Taunus erhöhten Horizontlinie schlechter zu erkennen. Verstärkt wurde dieser Effekt durch die mit Schnee bedeckten Berge. Umgekehrt konnte die Pilotin der DR 400 die Piper vor dem Vogelsberg am Horizont kaum sehen. Besonders fatal wirkte sich zudem die stehende Peilung der Maschinen aus. Der spitze Winkel, in dem sich die beiden Flugzeuge einander näherten, führte dazu, dass die jeweils andere Maschine nicht als Bewegung, sondern nur als fester Punkt am Horizont wahrnehmbar war. Der fehlende Bewegungsreiz reduzierte die Wahrnehmungschance demnach noch zusätzlich.

Fazit
Beide Flugzeuge, die Robin DR 400 Regent und die Piper PA-32 Saratoga, flogen auf derselben Reiseflughöhe von 3500 Fuß im spitzen Winkel aufeinander zu. Bei einer Annäherungsgeschwindigkeit von 90 Knoten blieb beiden Besatzungen ab dem Eindrehen der Robin DR 400 auf Kurs 120 Grad noch eine Minute und sechs Sekunden, um die Kollision doch noch abzuwenden. Eine Simulation der Annäherung durch die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen (BFU) ergab, dass die Probanden des Experiments das jeweils andere Flugzeug durchschnittlich erst 9,2 Sekunden vor dem Zusammenstoß bemerkten. Radar- und GPS-Daten zeigten bei den Unfallmaschinen keinen Ausweichversuch.
Nach den Ausweichregeln der LuftVO hätte zwar die von hinten links kommende PA-32 ausweichen müssen, da sie sich formal in einem Überholvorgang befand. Jedoch habe der Pilot durch stehende Peilung, blendendes Sonnenlicht und die Geländestruktur die DR 400 nicht erkennen und ausweichen können. Allein eine technische Hilfe hätte die Katastrophe wahrscheinlich verhindert: ein Kollisionswarngerät. Es war in keinem der Flugzeuge vorhanden.