Ganz gleich, ob ein Pilot am Steuerknüppel eines Flächenflugzeugs sitzt, einen Hubschrauber fliegt oder ein Fluggerät steuert, das leichter als Luft ist: Den Faktor Wind kann man in der Luft nicht außen vor lassen. Dennoch sind die Entscheidungskriterien für oder gegen einen Start durchaus recht unterschiedlich. Der Blick über den Tellerrand zeigt, dass es für Piloten anderer Sparten mindestens genauso riskant istwie für Flächenflieger, Warnsignale bei der Flug- und Startvorbereitung zu ignorieren. Ein aktueller Untersuchungsbericht der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) führt drastisch vor Augen, mit welcher Naturgewalt es Piloten unter Umständen zu tun haben – in diesem Fall im Korb eines Freiballons.
Gewerbliche Fahrt
Die Fahrt mit dem Ultramagic, einem häufig für kommerzielle Rundflüge eingesetzten Ballon, ist für die Abendstunden des 4. Juni 2019 geplant. Der Pilot will um 19 Uhr auf dem nordhessischen Sonderlandeplatz Korbach mit zehn Passagieren an Bord zu einer gewerblichen Fahrt aufbrechen. Doch wegen des starken Windes droht zunächst ein Abbruch des Vorhabens. Während der Ballon dann doch aufgebaut wird, beobachtet der Pilot ständig die Entwicklung der Windverhältnisse. Er will auf keinen Fall starten, wenn der Wind bis zur geplanten Startzeit nicht nachlassen sollte.
Umfangreiche Erfahrung
Der 64-Jährige ist seit 1992 Freiballonführer, zudem hat er unter anderem die Lehrberechtigung in dieser Klasse. In fast drei Jahrzehnten hat er umfangreiche Erfahrungen auf verschiedenen Ballontypen gesammelt. In seinem persönlichen Fahrtenbuch sind 2761 Stunden eingetragen, insgesamt hat er 3116 Ballonfahrten absolviert. Laut Flugbuch waren es auf dem Ultramagic in den vorangegangenen 24 Monaten 132 Fahrten, davon 13 in den letzten 90 Tagen. Sein flugmedizinisches Tauglichkeitszeugnis Klasse 2 ist bis zum 23. Februar 2020 gültig. Die letzte Überprüfungsfahrt absolvierte der Pilot erst wenige Monate zuvor, am 18. Februar 2019, ebenfalls auf dem Ultramagic. Er ist außerdem Geschäftsführer und Fahrbetriebsleiter des Luftfahrtunternehmens, das Passagierfahrten mit dem Freiballon anbietet. Vor dem Start unterweist der Pilot die Passagiere, wie sie sichwährend der Fahrt und bei der Landung verhalten sollen. Er erklärt dabei auch, wie ein Ballon gesteuert wird.

Auffrischender Wind
Erst gegen 20 Uhr Ortszeit fällt die Entscheidung, doch noch zu starten. Etwa 15 Minuten später hebt der Ballon auf dem Sonderlandeplatz Korbach ab. Nach dem Anstieg auf 200 bis 300 Meter über Grund setzt der Pilot die Fahrt ohne größere vertikale Bewegungen in nördlicher Richtung fort. Der Ballon bewegt sich jetzt mit etwa 12 Knoten (23 km/h). Etwa 50 Minuten später trifft der Ballonführer dann die Entscheidung, unweit der Ortschaft Bredelar zur Landung auf einer gemähten Wiese anzusetzen. Er informiert zur gleichen Zeit auch die Begleitmannschaft im Verfolgerfahrzeug über seine Absicht und die Position des Ballons. Der Wind sei "kernig", so die Auskunft über Funk an das Rückholteam.
Bodennahe Böen
Die Passagiere weist er nun nochmals eindringlich auf das richtige Verhalten bei der Landung hin. Möglicherweise ahnt er, dass es dabei gefährlich werden könnte. Dann steuert er in einem flachen Gleitwinkel aus einem Tal heraus die Kuppe eines Hügels an, die er als Landebereich ausgewählt hat. Zu diesem Zeitpunkt weht der Wind noch mit mehr alszehn Knoten (18 km/h) und bodennahen Böen gegen den Ballon. Beim Ansteuern des leicht ansteigenden Geländes setzt der Korb zunächst hart auf und kippt dann nach vorn, anschließend hebt er erneut ab und pendelt sich in Fahrtrichtung auf. Beim Zurückpendeln setzt er ein zweites Mal auf dem Boden auf.
Gefährliche Rutschpartie
Der starke Wind macht die missglückte Landung jetzt zu einer gefährlichen Rutschpartie, bei der der Korb mit den Insassen unsanft über die Wiese geschleift wird. Der Pilot zieht währenddessen unentwegt an den Leinen. Doch es hilft nichts, er kann die Havarie nicht verhindern:Der Ballon setzt seine wilde Schleiffahrt nun hangabwärts fort. Kurz darauf durchbricht er einen Zaun und überschlägt sich. Der Wind zieht die Ballonhülle anschließend nach links weg, sodass sich die Stahlseile quer über die Brennerspiralen spannen. In diesem Moment versucht der Pilot vom Rand des Korbes aus, die Stahlseile aus den Brennerspiralen zu lösen. Die Brennerstützen biegen sich aber dennoch immer weiter in Richtung des Korbes.Flammen im Korb

Dramatische Folgen
Für die Insassen hat dies dramatische Folgen: Der Pilot versucht zwar, sich wegzuducken, sein Oberkörper wird aber zwischen Korbbrüstung und Brennerrahmen eingeklemmt. Dann schlägt ihm schon die Flamme des Flüsterbrenners entgegen. Sie verfehlt seinen Kopf nur um wenige Zentimeter, trifft aber seine Beine. Nun aber schwenkt der Brenner ins Passagierabteil. Dabei werden mehrere Insassen schwer verletzt. Durch das beherzte Handeln eines Helfers von der Bodenmannschaft können sich die Passagiere und der Pilot gegenseitig aus dem Korb befreien. Die Bilanz: sieben schwer und zwei leicht Verletzte. Auch der Pilot selbst trägt schwere Verletzungen davon.
Innerhalb der sicheren Betriebsgrenzen
Die Bundestelle für Flugunfalluntersuchung beauftragte im Zuge der Ermittlungen zu dem havarierten Freiballon den Deutschen Wetterdienst (DWD) mit der Erstellung eines amtlichen meteorologischen Gutachtens. Ergebnis: Zum Zeitpunkt der Landung herrschte eine mittlere Windgeschwindigkeit von fünf bis zehn Knoten (rund 9 bis 18 km/h), die Windspitzen waren wahrscheinlich noch höher. Das Thermikende war an diesem Frühsommertag für etwa 20:40 Uhr vorhergesagt, also etwa 30 Minuten vor der Landung. Aufgrund einer von Westen kommenden Kaltfront ließen aber weder der Bodenwind noch die Böen nach. Insgesamt lagen die Werte aber immer noch innerhalb der sicheren Betriebsgrenzen des Ballons.
Orographische Bedingungen
Darüber hinaus stellen die BFU-Ermittler fest, dass die vom Ballonführer beschriebenen Böen während der Landung "sehr wahrscheinlich den orographischen Bedingungen" an dem gewählten Landeplatz geschuldet waren. Das Gelände habe insgesamt aber gute Voraussetzungen für eine Landung unter den gegebenen Windbedingungen geboten, so die Einschätzung der Experten im Abschlussbericht. Skeptisch wird darin aber die Aussage des Piloten zum Entleeren der Hülle bewertet: Etwa acht bis zehn Meter über dem Boden habe er die Schnellentleerung geöffnet. Bei diesem Vorgang entweicht heiße Luft aus der Ballonhülle, und die Tragkraft lässt deutlich nach.

BFU sieht Widersprüche
Dies widerspreche jedoch dem gesamten Verlauf der Landung und dem Unfallgeschehen, betonen die BFU-Ermittler. Auch die Aussage, dass der Ballon nach dem ersten Aufsetzen wieder abgehoben hätte und der Korb dabei ins Pendeln gekommen sei, passt der BFU zufolge nicht zu den Angaben in Bezug auf die Schnellentleerung.Nach Aussage des Piloten sei der Korb beim ersten Aufsetzversuch in Fahrtrichtung nach vorn gekippt und dann erneut abgehoben. Anschließend habe er sich in Fahrtrichtung aufgependelt. Beim Zurückpendeln habe er dann ein zweites Mal hart auf dem Boden aufgesetzt.

Schnellentleerung
Mit einer vollständig geöffneten Schnellentleerung hätte dies nicht geschehen können, so die BFU. Der Tragkraftverlust bei rechtzeitiger Öffnung sei so hoch, dass ein Abheben und Pendeln des Ballons nahezu ausgeschlossen werden könne. Zudem würden Bodenspuren an der Unfallstelle belegen, dass das erste Aufsetzen des Korbes mit dessen Breitseite erfolgt sei. Daher halten es die Ermittler für sehr viel wahrscheinlicher, dass der Ballonführer die Schnellentleerung der Hülle erst voll aufzog, als der Korb bereits aufgesetzt hatte oder als er nach dem ersten Aufsetzen wieder abgehoben war. Dadurch kam es zu dem beschriebenen Aufschaukeln des Korbes.
Flamme des Flüsterbrenners
Die Flamme des Flüsterbrenners wurde vermutlich durch den Bodenkontakt des Ventils oder durch das Leinenwirrwarr am Korb verursacht. In der letzten Phase der Landung hätte der Pilot die Flamme löschen und das Ventil des Brennstoffbehälters schließen müssen. Das hätte nach Einschätzung der BFU nur wenige Sekunden in Anspruch genommen – die Bruchlandung wäre dann deutlich glimpflicher ausgegangen.