Manche Fluggeräte, die mit PS-strotzenden Motoren und diversen Tricks noch schneller sein sollen als alle anderen Maschinen auf dem Vorfeld, erinnern an Muskelprotze, die vor lauter Kraft kaum gehen können. Beim Fliegen aber ist zu viel Power manchmal ebenso gefährlich wie zu wenig. Piloten, die Maschinen mit geringer Masse und sehr leistungsfähigen Triebwerken fliegen, brauchen daher viel Übung und Erfahrung.
Hochleistungs-UL
Um die nötige Sicherheit im Umgang mit seinem Hochleistungs-UL zu bekommen, will ein Pilot im Juni 2020 einen Trainingsflug machen. Das UL des Typs TL Stream ist in der Slowakei zugelassen. Der 69-Jährige will sich mit dem Fluggerät vertraut machen und hat einen Fluglehrer gebeten, ihn als Safety Pilot zu begleiten. Dieser gilt als sehr erfahren. In seiner Lizenz sind außer der Lehrberechtigung auch die Berechtigungen für Gleitsegelflugzeuge, Trikes und Wasserflugzeuge eingetragen. Seine Gesamtflugerfahrung beläuft sich auf rund 10 000 Flugstunden.
Training mit Safety Pilot
Der 69-Jährige und sein Safety Pilot treffen sich an diesem Tag im Frühsommer 2020 am Flugplatz zum Training. In dem Tandemsitzer nimmt der PIC vorne Platz, dahinter sitzt der Safety Pilot. Ziel des Fluges ist der Flugplatz Dierdorf-Wienau. Erst im Dezember 2016 hat der Pilot seine PPL(A) erworben, am 16. Mai 2017 stellte der DAeC erstmals eine UL-Lizenz auf seinen Namen aus. Im Cockpit der TL Stream hat er seither bereits über 200 Flugstunden und 340 Starts absolviert.
Neues Kraftpaket
Im März 2020 hat er das Triebwerk seiner Stream, einen Rotax-912-Boxermotor mit 100 PS, von einem darauf spezialisierten Unternehmen modifizieren lassen. Seitdem ist ein Edge-Performance-912-Sti-Triebwerk unter der Cowling des ULs verbaut. Der neue Motor ist deutlich stärker als der alte: 154 PS – über 50 Prozent mehr Power als vorher. Mit diesem neuen Kraftpaket hat der PIC erst 15 Stunden und 17 Landungen absolviert. Der Übungsflug an diesem 6. Juni 2020 mit Fluglehrer soll seinen Trainingsstand weiter verbessern. Beim ersten Start muss der Fluglehrer offenbar beherzt in die Steuerung des ULs eingreifen. Ansonsten verläuft dieser Teil des Fluges aber ohne besondere Ereignisse.

Zwischenlandung
Auf der gewählten Strecke taucht dann ein Regenschauer auf. Pilot und Fluglehrer entscheiden sich deshalb für eine Zwischenlandung im hessischen Gießen-Lützellinden. Als der Schauer vorübergezogen ist, wischen die beiden das Wasser von den Tragflächen, um beim Start eine ungünstige Wirkung auf die Aerodynamik, insbesondere auf die Stall Speed, zu vermeiden. Der Pilot bittet seinen Safety Pilot vor dem Start, diesmal nicht wieder in die Steuerung einzugreifen. Offenbar hält er ein mögliches Korrigieren des Fluglehrers nicht mehr für notwendig.
Misslungener Startlauf
Um 14.25 Uhr steht die Stream an der Schwelle 25 der 716 Meter langen Asphaltpiste des Sonderlandeplatzes Gießen-Lützellinden. Der Pilot schiebt den Gashebel nach vorn, daraufhin beschleunigt der Tiefdecker rasch. Dabei ruft der PIC eine hohe Triebwerksleistung ab. Zeugenaussagen zufolge rotiert die Stream schon bald nach dem Anrollen und beschleunigt dann weiter auf dem Hauptfahrwerk.
Extremer Steigflug
In diesen Sekunden bricht das UL nach links aus. Daraufhin zieht der Pilot die Maschine in einem großen Steigwinkel von der Piste. Durch den missglückten Startlauf und Anfangssteigflug kommt das Flugzeug etwa 30 Grad von der ursprünglichen Startrichtung ab. Viel verheerender aber ist der extreme Steigflug, durch den ein Strömungsabriss kurz bevorsteht. Der Fluglehrer versucht in diesem Moment, noch korrigierend einzugreifen, doch es ist bereits zu spät. Nur wenige Augenblicke nach dem Abheben rollt die Stream in geringer Höhe um ihre Längsachse nach links in Rückenlage. In rund 20 Metern kippt sie schließlich ganz nach links ab und schlägt fast senkrecht auf einer Wiese nahe der Startbahn auf. Der vorne sitzende Pilot stirbt durch den Aufprall der Maschine sofort. Als Todesursache wird bei der folgenden gerichtsmedizinischen Untersuchung ein Polytrauma festgestellt. Der 56-jährige Fluglehrer überlebt auf dem hinteren Sitz mit nur leichten Verletzungen.

Wrack in Rückenlage
Rettungskräfte finden das Wrack in Rückenlage südlich der Piste von Lützellinden vor. Auf dem nahe gelegenen asphaltierten Rollweg verläuft eine etwa acht Meter lange Rutschstrecke bis zur Endlage des Wracks. Das Cockpit ist bis zu den vorderen Seitenruderpedalen zerstört. Auch von der Cockpithaube ist nicht viel übriggeblieben. Der hintere Teil der Kabine dagegen, dort, wo der Fluglehrer beim Aufprall saß, ist kaum beschädigt.
Keine Hinweise auf einen technischen Defekt
Die Ermittler der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) stellen am Wrack außerdem fest, dass die Landeklappen noch in Startstellung gerastet sind, auch das Fahrwerk war zum Zeitpunkt des Absturzes noch nicht eingefahren. Bei den weiteren Untersuchungen der BFU in Zusammenarbeit mit dem Hersteller des Ultraleichtflugzeugs ergeben sich keine Hinweise auf einen technischen Defekt an der Steuerung oder an anderen Bauteilen der TL Stream.
Wenig Spielraum für Fehler
Im Flughandbuch wird die Überziehgeschwindigkeit bei voll ausgefahrenen Klappen mit 46 Knoten (85 km/h) angegeben, ohne Klappen sind es sogar 59 Knoten (109 km/h). Diese Zahlen machen deutlich, womit es ein Pilot zu tun hat, wenn er ein Hochleistungsfluggerät dieser Art steuert. Schon die normale Konstruktion ist ein äußerst anspruchsvolles UL mit wenig Spielraum für Fehler, insbesondere in kritischen Fluglagen. Das modifizierte Triebwerk mit mehr als 50 PS erhöhter Leistung macht die Sache nicht gerade einfacher. Beim Start droht bei voller Leistung durch Antriebseffekte wie Torque- und Korkenziehereffekt ein Ausbrechen nach links.
Umrüstung mit Folgen
Bei den ersten Untersuchungsergebnissen, die in einem BFU-Zwischenbericht veröffentlicht wurden, sind auch Aussagen von Testpiloten des Kitherstellers zu finden. Sie geben an, dass sich das Startverhalten der TL Stream nach der Umrüstung "deutlich verändert" habe. Weiter heißt es dort: Startlauf und Abheben seien nur mit reduzierter Leistung möglich, da das Flugzeug andernfalls nach links abdrehen würde. Bei dem Unfall in Gießen-Lützellinden wirkte die konstruktionsbedingt hohe Abrissgeschwindigkeit im Zusammenspiel mit dem steilen Anfangssteigflug offenbar besonders verheerend.
Über 200 Stunden
Es ist zumindest nachvollziehbar, dass sich ein Pilot, der bereits über 200 Stunden mit seinem UL in der Luft war, beim Startlauf nicht in die Parade fahren lassen will. Sicheres Lernen kann man so aber wohl kaum erzwingen.