„ASK 21 am Waldseil startklar, Seil anziehen!“, kommandiert Obergefreiter Christof Vogelpohl ins Mikrofon seines Funkgeräts. Als der Segler beschleunigt und kurz darauf den Boden verlässt, sind die Freudenschreie aus dem Cockpit unüberhörbar. Dort sitzt Obergefreiter Josephine Leupold, die gerade ihren ersten Segelflugzeug-Start erlebt. Die Luft ist kühl, die Sonne knallt und dicke Cumuli quellen am Himmel auf. Perfektes Wetter! So bleibt es nicht nur bei einer Platzrunde, sondern es wird ein ausgedehnter erster Ausflug in die Umgebung des Flugplatzes. Als die 21 nach einer guten Viertelstunde einschwebt und aufsetzt, signalisieren ein Grinsen und der ausgestreckte Daumen, dass das Virus des Segelfliegens wieder einen Fußgänger angesteckt hat.
Wenige Stunden zuvor saßen Leupold und Vogelpohl, beide Offizieranwärter der Luftwaffe, in einem Schulungsraum der Otto-Lilienthal-Kaserne und lauschten gemeinsam mit 15 Kameradinnen und Kameraden gespannt dem Vortrag von Stephan Olessak, Leiter der Segelflugschule Oerlinghausen. Sie alle wollen künftig als Führungskräfte in der Truppe anspruchsvolle Aufgaben bewältigen. Dafür absolvieren sie gerade den Offizieranwärterlehrgang Teil 1, in dem sie neben den militärischen Grundfertigkeiten die notwendigen Qualifikationen für ihre künftige Aufgabe als militärische Führungskraft erwerben. Und sie erlernen das Segelfliegen.

Seit einigen Jahren führt der Weg zum Luftwaffenoffizier direkt durch das Cockpit eines Segelflugzeugs. Als Modul „Erleben der 3. Dimension“ ist die Heranführung ans Fliegen, an den Flugbetrieb und die damit verbundenen Herausforderungen für die Offizieranwärter, kurz OAs, obligatorisch. Für jene, die später in nicht-fliegenden Verwendungen wie beispielsweise dem technischen Dienst oder der Verwaltung arbeiten, bedeutet das vier Tage straff organisierter Flugbetrieb mit 15 bis 20 Starts pro Nase. Wer hingegen Pilot werden will, der absolviert innerhalb von fünf Wochen eine komplette Segelflugausbildung einschließlich Theorie und BZF an der Segelflugschule Oerlinghausen.
So tief muss der Hörsaal Foxtrott der 3. Inspektion der Offizierschule der Luftwaffe – als Hörsaal werden die Klassen eines Offizierlehrgangs bezeichnet – nicht in die Materie eindringen, da keiner aus der Gruppe Pilot werden möchte. Dennoch: Ohne Theorie geht es nicht. Ausgehend von etwas Historie, immerhin trägt die Kaserne in Roth den Namen des bedeutendsten deutschen Flugpioniers, Otto Lilienthal, und der Vorstellung des Teams geht es an die fliegerischen Grundlagen. Heißt im Wesentlichen: Orientierung. Was passiert wann, wo wird geflogen, wie komme ich selbst und wie kommen die Flugzeuge dahin, wo darf ich ein Flugzeug anfassen, wer gibt Kommandos? Auch die fliegerischen Basics bekommen Raum. Wo verläuft die Platzrunde – im militärischen Bereich ist das noch wichtiger als im zivilen, sollte man doch das Überfliegen der nahen Schießbahn in niedriger Höhe im eigenen Interesse möglichst vermeiden –, wie laufen Start und Landung ab, und wer ist sonst noch im Luftraum zu erwarten?

Fliegerisch ist in Roth seit 2014 nur noch wenig los, obgleich bis 2011 hier zwei neue Wartungshallen und ein Simulatorzentrum für die Eurocopter Tiger des Kampfhubschrauberregiments 26 gebaut wurden. Das Regiment wurde kurze Zeit später im Rahmen der Neuausrichtung der Bundeswehr aufgelöst. Nur die bayerische Landespolizei mit ihren zwei H135, die Bundeswehr-Flugsportgruppe Otto Lilienthal und der Flieger-Club Roth nutzen derzeit die Betriebsflächen des Flugplatzes. Und nun also auch die angehenden Segelflieger in Flecktarn.
Segelflugbetrieb auf der grünen Wiese
Für die Segelflugschule Oerlinghausen und ihren Kooperationspartner, die Fliegerschule Wasserkuppe, bedeutet das, quasi auf der grünen Wiese einen Segelflugbetrieb auf die Beine zu stellen. „Das Fehlen jeglichen Materials zu kompensieren war kein Problem“, so Stephan Olessak. Die Sechstrommel-Winde und der passende Lepo seien per Tieflader gekommen, die anderen Flugbetriebsfahrzeuge stellen die lokalen Clubs. Zwei ASK 21 kamen ebenfalls aus Oerlinghausen, zwei weitere wurden samt Fluglehrern von umliegenden Vereinen gechartert. Viel größer sei das Umschiffen der formalen Hemmnisse gewesen. „Wir organisieren hier die erste durchstrukturierte Segelflugausbildung innerhalb der Bundeswehr seit 1988. Acht Dienststellen vom Standort Roth bis zum Verteidigungsministerium sind in die Vorbereitung und Durchführung involviert gewesen, was eine irrsinnig aufwendige Abstimmung verlangt, weil natürlich jeder informiert sein und am Ende mitentscheiden will. Dazu kommt, dass die meisten Stellen vom Segelflugbetrieb naturgemäß keine Ahnung haben, weil es seit vielen Jahren militärisch keine Rolle mehr gespielt hat.“
Diese Einschätzung hat sich aber massiv gewandelt. „In der Luftwaffe hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es für die spätere Arbeit als Offizier hilfreich ist, Fliegerei auch einmal praktisch erlebt zu haben“, sagt Oberstabsfeldwebel Andreas Grebl von der Pressestelle der Offizierschule der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck. „Das Engagement aller Luftwaffensoldaten ist ja darauf ausgerichtet, die fliegenden Verbände einsatzfähig zu halten, und da sollte man ein Mindestmaß an Sachkenntnis bezüglich des Flugbetriebs haben.“ Noch wichtiger als die fachliche Komponente sei aber die soziale. „Segelfliegen ist Teamwork. Hier lernen die OAs, dass es beim Flugbetrieb auf jeden ankommt, jeder Verantwortung für den anderen übernehmen und für ihn einstehen muss. Ohne seine Kameraden kommt ein Pilot nicht in die Luft, egal ob er ein Segelflugzeug oder einen Eurofighter fliegt.“ Diese Ausbildungsinhalte wolle man mit dem „Erleben der 3. Dimension“ vermitteln.

Bereits im Eröffnungsbriefing hatte Stephan Olessak die fünf „Golden Goals“ des Lehrgangs umrissen: Augen auf, mitdenken, Initiative zeigen, Verantwortung übernehmen und Disziplin leben. Allesamt Schlagworte, die gleichsam zum Airmanship und zum militärischen Handeln passen. Dementsprechend werden alle wichtigen Funktionen im Flugbetrieb nach einer Einweisung auch direkt von den OAs besetzt – abgesehen von Winden- und Lepofahrern, die die Segelflugschule stellt. Ein Soldat steigt ins Cockpit, seine Kameraden helfen beim Anschnallen und Einklinken, als Flächenläufer, Startleiter und Startschreiber. Und wenn eine der vier ASK 21 gelandet ist, heißt es gemeinsam anpacken. Schnell setzen Gruppendynamik und -disziplinierung ein, werden Kommandos gebrüllt, wenn zwei ein Flugzeug zu schieben versuchen und drei rumstehen und fasziniert einem Start hinterherschauen.
Begeisterung für den Segelflugsport
Und wie so oft bei fliegerisch Unbeleckten stellt sich Begeisterung ein. „Der Start ist absolut phänomenal“, sagt Hauptfeldwebel Christiane Koß, die nach dem ersten Ritt auf der 21 noch sichtlich mit den Auswirkungen der g-Kräfte auf ihren Magen ringt. Ihr Kamerad, der Obergefreite Julian Janneck, scheint etwas luftfester, ist aber nicht minder beeindruckt. „Die Beschleunigung ist ein irres Gefühl, und gerade weil’s so im Bauch kribbelt, macht das Lust auf mehr.“ Beide sind von der Wichtigkeit des Moduls in ihrer Ausbildung und der Relevanz der hier vermittelten Inhalte überzeugt. „Alle Luftwaffensoldaten stehen hinter den Piloten von Transport- und Kampfflugzeugen“, sagt Koß. „Wie wichtig Teamwork in der Fliegerei ist, das erleben wir hier hautnah. Und das gemeinsame Anpacken vermittelt perfekt den kooperativen Führungsstil, der in der Bundeswehr gelebt wird. Jeder muss mit jedem zusammenarbeiten können.“ „Es sind viele Zahnräder, die ineinandergreifen“, ergänzt Julian Janneck. Man muss sich auf den jeweils anderen verlassen können, sonst funktioniert es nicht. Das Segelfliegen ist ein unschätzbares Gemeinschaftserlebnis, das auch den Zusammenhalt im Hörsaal ungemein stärken wird.„
Als sich der erste von vier Tagen praktischer Fliegerei dem Ende zuneigt, ist bei den meisten das flaue Gefühl in der Magengegend echter Begeisterung gewichen. Zwar merkt mancher auch, dass er mit seiner nicht-fliegenden Verwendung die richtige Wahl getroffen hat, nicht wenige allerdings überlegen schon, wie sich eine Segelflugausbildung bis zur Lizenz in ihren weiteren beruflichen und privaten Werdegang integrieren ließe. “Wie lange dauert die Ausbildung?„ “Was kostet das?„ “Wo kann man das machen?„ Diese Fragen hören Stephan Olessak und die vier Fluglehrer, die mit den OAs schulen, oft.

“Es ist toll, dass die Luftwaffe gemeinsam mit uns und der Fliegerschule Wasserkuppe nach einigen Jahren des Ausprobierens einen soliden Modus für die Aktion „Erleben der 3. Dimension“ gefunden hat und wir einen längerfristigen Vertrag über die Durchführung abschließen konnten„, resümiert Stephan Olessak. Was er sich allerdings wünscht, ist eine stärkere Wahrnehmung des Engagements durch den DAeC und seine Landesverbände. “Was wir mit der Bundeswehr hier in Roth, auf der Wasserkuppe und in Oerlinghausen machen, ist nichts weniger als die größte PR-Aktion für den Segelflug. 600 junge Leute bringen wir jedes Jahr mit unserem tollen Sport in Kontakt, mehr Öffentlichkeitsarbeit geht nicht.„