Porträt: Wolfgang Schmelzer
Flug in die Freiheit

Christine (61) und Wolfgang Schmelzer (67) waren Fluglehrer bei der GST in Leipzig und leidenschaftliche Piloten. Für ihre Freiheit riskierten sie alles: Als Wolfgang Schmelzer 1980 die Flucht mit einer Wilga nach Bayern gelang, wurde seine Frau zu 27 Monaten Zuchthaus verurteilt. Heute genießen beide ihre Fliegerfreiheit in Florida. (Das Interview führte Renate Strecker)

Flug in die Freiheit

Herr Schmelzer, Sie haben eine außergewöhnliche fliegerische Karriere gemacht. Erzählen Sie uns vom 16. Juli 1980?

Damals flog ich bei der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) als Schlepppilot bei einem Segelfliegerlehrgang in Leipzig, meine Frau war als Fluglehrerin eingeteilt. Nach fünfjähriger Planung musste in diesem Lehrgang meine Flucht in den Westen passieren, denn die Chancen, im Flugzeug zu fliehen, wurden immer geringer. Das Wetter war gut. Die Wilga war vollgetankt. Nach Einsetzen der Thermik hatte ich alle Segelflugzeuge nach oben geschleppt. Die Situation nutzte ich aus, um mich aus der Sichtweite des Platzes zu entfernen. Da ich das schon mehrmals gemacht hatte, fiel das erst mal nicht auf. Ich schaltete das Funkgerät aus und flog davon. Danach kam am Platz die Maschinerie in Gang. Da war ich aber bereits im Tief(st)flug auf dem Weg nach Bayern. 47 Minuten Flugzeit hatte ich kalkuliert. Als ich den Grenzübergang Rudolphstein überflogen hatte und wenig später schneeweiße Häuser mit roten Ziegeln sah, wusste ich, dass ich es geschafft hatte. Ich war inzwischen 52 Minuten mit Vollgas, dem Terrain folgend, geflogen und landete zwei Kilometer hinter der Grenze auf einer großen Wiese hang­aufwärts. Danach saß ich erst einmal eine Weile ganz still im Flugzeug, bis die Polizei kam.

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Was war damals in der DDR fliegerisch überhaupt möglich?

Ich war seit meiner Jugend aktiv als Segelflieger, Fluglehrer und Schlepp-pilot. In den 50er und 60er Jahren war das Vereinsleben kameradschaftlich und gut. Aber mit Honecker änderte sich das, und es gab nur noch Flugausbildung bei der GST für NVA-Pilotennachwuchs. Die Folge waren viele Restriktionen, die die sportlichen Aktivitäten, wie den Streckenflug, zunehmend lahmlegten. Sowohl meine Frau als auch ich arbeiteten hauptberuflich als Ingenieure, das Fliegen war für uns Freizeit und ein Stück Freiheit. Als das immer mehr eingeschränkt wurde, konkretisierten sich unsere Fluchtgedanken. Fluchten vergangener Jahre mit Flugzeugen hatten das Regime nervös gemacht. Jeder wurde beobachtet. Wir durften nie gemeinsam in einem Flugzeug sitzen. Flüge außerhalb der Sichtweite der Plätze waren nicht erlaubt. Zudem hatten wir zwei kleine Töchter, drei und vier Jahre, die wir nicht zurücklassen konnten. Also konnte nur einer von uns fliehen. Wir waren naiv und glaubten, dass der andere nicht ins Zuchthaus müsste und mit den Kindern dann automatisch würde ausreisen können. Zudem drohte uns wegen Westverwandten der Ausschluss aus der GST, was das endgültige fliegerische Aus für uns bedeutet hätte.

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Über die Schmelzers gibt es 16 Stasi-Ordner

Wolfgang Schmelzer auf dem Flugplatz Bonn/Hangelar. Tochter und Enkelkinder leben in Bonn; sie werden regelmäßg besucht. Foto und Copyright: Holland-Moritz

Was geschah mit der Wilga?

Formal hatte ich sie ja gestohlen und mit meinem Flug auch die ADIZ verletzt. Also wurde in München ein Strafverfahren eingeleitet. Das wurde aber nach kurzer Zeit wieder eingestellt. Die Wilga wurde später auf einem Tieflader zurück nach Leipzig gebracht. Bei der Gauck-Behörde gibt es 16 Stasi-Ordner über uns. 


Wie und wo gelang Ihnen der fliegerische Neustart?

Ich hatte Glück, dass ich nach Baden-Württemberg kam und auf der Hahnweide Piloten kennen lernte, die mir weiterhalfen. Ich hatte zwar ein paar Dokumente mitnehmen können, aber die Nachweise über meine Tätigkeit als Bauingenieur waren unvollständig. Ein Architekt stellte mich ein, und wenig später bekam ich eine Anstellung als Bauleiter. Durch die Fliegerkontakte habe ich den Einstieg in das neue Leben geschafft. Obwohl ich bereits mehr als 1000 Flugstunden hatte, musste ich die PPL-Theorie mit Prüfung beim LBA absolvieren. An den Wochenenden engagierte ich mich wieder fliegerisch als Fluglehrer und Schlepppilot beim LSV Leibertingen.


Wie erging es Ihrer Frau, und konnte sie später im Westen auch wieder fliegen?

Nach 26 Monaten wurde Christine endlich aus der Haft entlassen. Wir hatten zwischenzeitlich nur Briefe schreiben können, die aber zensiert wurden. Fünf Monate später konnten dann auch unsere Kinder ausreisen. Sie hatten zum Glück bei den Großeltern leben können. Ich hatte inzwischen für vier Jahre einen gut dotierten Job bei einer Baufirma im Ausland. Da ich einen Familienvertrag abgeschlossen hatte, konnten wir dort wieder zusammenleben. Nach der Rückkehr nach Deutschland wurden Christine und ich ehrenamtlich Fluglehrer im LSV Bonn-Beuel. In Hangelar erwarb sie dann den PPL(A). Nach einigen Jahren in Bonn/Hangelar wechselten wir zum LSC Bayer Leverkusen.


Haben Sie irgendwann mal Ihre Fluchtstrecke nachgeflogen?

Wir haben die Fluchtstrecke nie nachgeflogen. Jedoch sind wir nach dem Mauerfall oft mit unserer Bölkow Junior von Hangelar nach Leipzig/Halle geflogen. Es waren für mich erhebende Momente, dort zu landen ohne Angst zu haben.

In ein paar Jahren zurück nach Deutschland

Sie leben heute in einer Flieger-Community in Florida. Wie kam es dazu, und was ist da so anders als hier?

Ja, wir haben unseren Fliegertraum wahr gemacht. Das geht nur in den USA mit der ganz anderen Fliegerkultur sowie den besseren Kosten- und Luftraumsituationen. 1997 kauften wir uns ein Grundstück in einem Airpark mit Grasbahn im Norden Floridas und bauten ein Haus mit Hangar. Unsere Bölkow 208C nahmen wir im Container mit. Das Flugzeug steht vor der Haustür. Wir können bei Tag und Nacht fliegen, haben die Möglichkeit, jederzeit einzusteigen und einfach loszufliegen. Die Weite des Landes hat uns zu so vielen Flügen animiert – Rucksack gepackt und los. Mit unseren Motorflugzeugen (Bölkow und Maule) sind wir von der Ost- zur Westküste und zurück geflogen und haben in den nunmehr 18 Jahren die USA in viele Richtungen mit dem Flugzeug bereist. Dabei erstaunen immer wieder die Hilfsbereitschaft der Piloten sowie die Offenheit und Sympathie, die die Allgemeine Luftfahrt in der Öffentlichkeit der USA genießt.


Wie und wo sehen Sie Ihre Zukunft?

Wir haben unsere fliegerischen Freiheiten genießen können. Nach 50 Jahren Fliegerei, mehr als 15 000 Flügen und 5700 Stunden sind wir auch ein wenig stolz, was wir als Sportpiloten erreicht haben. Da gibt es für uns kaum noch Herausforderungen. Als Ehepaar, jedoch beide einzeln, erflogen wir mehr als 100 State Records im Segelflug. Im Westen der USA gelangen uns Streckenflüge und Ergebnisse, wie wir sie nie erträumt hatten, beispielsweise das FAI-1000-km-Diplom oder im OLC weltweit Platz sechs. Wir planen aber, in ein paar Jahren wieder nach Deutschland zurückzukehren, um wieder in der Nähe unserer Kinder, Enkel und Eltern zu sein.


Das Fluchtflugzeug: Wilga 35A

Die leichte, viersitzige Wilga 35A (MTOW 1230 kg) wurde bei PZL Mielec in Polen entwickelt und hatte 1967 ihren Erstflug. Mehr als 80 Wilgas wurden in der DDR bei der GST zum Absetzen von Fallschirmspringern, im Segelflugzeugschlepp sowie bei Präzisionsflugmeisterschaften eingesetzt. Als Antrieb dient ein Ivchenko-AI-14R-Motor mit 190 kW (258 PS). Der Hochdecker verfügt über hervor­ragende Kurzstart- und -landefähigkeit.

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