Landeunfall mit Phenom 100
Vereisung im Flug: eiskalt erwischt

Die Crew eines Business Jets muss im Landeanflug bei Vereisungsbedingungen durch eine geschlossene Wolkendecke sinken. Doch die Piloten sind mit dem De-icing-System der Maschine wenig vertraut und stehen wegen des nachfolgenden Verkehrs unter Druck.

Vereisung im Flug: eiskalt erwischt
Foto: BFU

Moderne Technik im Flugzeug bringt den Piloten viele Vorteile: IFR-Ausrüstung macht unabhängiger von schlechtem Wetter, Kollisionswarngeräte schützen vor Zusammenstößen, De-icing-Anlagen verhindern eine gefährliche Veränderung des Flügelprofils. Das Problem bei all diesen technischen Helfern ist aber, dass sie das Fliegen manchmal auch komplizierter machen.

Zwei Piloten, ein Passagier

Die belgische Besatzung einer Embraer Phenom 100 (Typ EMB-500) ist eigentlich ausreichend qualifiziert, um die modernen Systeme des leichten Business Jets sicher zu bedienen. Am 15. Februar 2013 startet die Crew vom Flughafen Kortrijk-Wevelgem in Belgien zu einem kommerziellen Flug nach Berlin-Schönefeld. Außer dem Piloten (PIC) und seiner Copilotin (pilot flying) ist auch ein Passagier an Bord des Zweistrahlers. Nach dem Start steigt der Jet mit eingeschaltetem Engine-Anti-icing-System zügig durch die Wolken auf Reiseflughöhe. Per Autopilot fliegt die Crew jetzt auf Kurs Berlin-Schönefeld.

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Die Unfallmaschine – hier ein baugleiches Muster – war sowohl mit Anti-icing-Systemen als auch mit De-icing-Systemen ausgerüstet.

„Moderate icing below 3000 feet“

Als sich der Jet im Sinkflug dem Flughafen nähert, hört der PIC die ATIS-Frequenz ab. Während die Maschine Flugfläche 200 passiert, fragt ihn die Copilotin nach der Checkliste für den Sinkflug. Der PIC bittet sie daraufhin noch zu warten, da er erst die ATIS-Informationen abhören will. Darin wird unter anderem „moderate icing (…) below 3000 feet“ gemeldet. Die Außentemperatur beträgt zu diesem Zeitpunkt minus 18 Grad Celsius.

Feucht oder nicht feucht?

Um 8:50 Uhr passiert der Jet 9700 Fuß. Die Copilotin fragt nun erneut: „Descent checklist?“, was der PIC wiederum mit „Stand by“ beantwortet. Erst als der Jet unter 4000 Fuß sinkt, geht die Crew die Checkliste für den Sinkflug durch. Dabei fragt der Pilot: „Landing speeds?“ Die Copilotin antwortet: „Set by me.“ Die entsprechende Geschwindigkeit nennt sie nicht. Auf die Frage nach „Icing conditions?“ antwortet sie: „Negative, no visible moisture.“ In den Wolken muss die Crew aber mit Feuchtigkeit (moisture) rechnen. Laut ATIS ist die Lage eindeutig: „Moderate icing below 3000 feet.“

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Deutliche Spuren: Selbst Stunden nach dem Crash der Phenom 100 ist an der gesamten Flügelvorderkante und am Leitwerk noch Eisansatz zu sehen

Copilotin unter Druck

Um 8:55 Uhr sinkt der Embraer-Jet auf 3000 Fuß, die Ausgangshöhe für den ILS-Anflug. Die Towerlotsin gibt der Besatzung per Funk die Anweisung, mit mindestens 170 Knoten Indicated Airspeed (IAS) anzufliegen. Im folgenden ILS-Anflug fordert der PIC die Copilotin daher mehrfach auf, eine hohe Anfluggeschwindigkeit zu halten, um den nachfolgenden Verkehr nicht aufzuhalten. Als auch die Lotsin erneut fordert: „(…) maintain speed one hundred and seventy knots or greater to four miles final“, ergänzt der PIC: „Siehst du, die mögen das nicht, wenn du alle hinter uns aufhältst.“ Am Automatic Flight Control System (AFCS) stellt er dann 175 Knoten ein. Um 8:55 Uhr schaltet er das Engine Anti-icing-System ein, die Außentemperatur beträgt zu diesem Zeitpunkt minus 1,5 Grad Celsius. Rund sechs Meilen vor der Schwelle der Piste 07L beginnt der PIC, die Approach-Checkliste abzuarbeiten. Bei dem Punkt „Icing conditions“ sagt er, dass dieses noch eingeschaltet sei, womit offenbar das Anti-icing-System der Triebwerke gemeint ist. Als der Jet vier Meilen vor der Schwelle ist, gibt er seiner Copilotin die Anweisung, die Geschwindigkeit jetzt zu verringern. Daraufhin reduziert sie auf 163 Knoten, und der PIC fährt die Landeklappen auf Stufe zwei aus. Die Copilotin deaktiviert nun auch den Autopiloten, die Engine Anti-icing-Systeme und die Windshield-Anti-icing-Systeme werden ebenfalls abgeschaltet.

Nicht landebereit

Aufgrund des schnellen Anflugs und des verzögerten Abarbeitens der Checklisten ist der Jet bei 1000 Fuß immer noch nicht in Landekonfiguration. In 800 Fuß bittet die Copilotin den PIC, die Klappen voll auszufahren. Nachdem die automatische Ansage „Five hundred“ ertönt, reduziert die Crew die Geschwindigkeit weiter auf 114 Knoten. Der PIC schließt jetzt die Landing checklist mit den Worten: „(...) gear down three greens, flaps are full, landing clearance update.“ In 250 Fuß meldet er über Funk: „(...) just to confirm cleared to land?“

Überraschende Rollbewegung

Um 9:00 Uhr ertönt die automatische Ansage: „Minimums, minimums.“ Daraufhin meldet der PIC erneut über Funk: „(...) just to confirm cleared to land?“ In den folgenden Sekunden erhöhen sich der Längsneigungswinkel und der Anstellwinkel des Jets, während zugleich weiter Fahrt abgebaut wird. In dieser Flugphase verlässt die Maschine den Gleitpfad nach unten. Weder die Copilotin noch der PIC reagieren auf diese Entwicklung. 30 Fuß über der Piste beginnt der Jet schließlich nach links zu rollen und erreicht nach zwei Sekunden eine Querneigung von 30 Grad. Die Crew ist davon offensichtlich völlig überrascht. „Oh, oh!“, rufen beide gleichzeitig aus, als die linke Tragfläche auf der Asphaltpiste aufschlägt. Augenblicke später rollt der Jet um die Längsachse nach rechts und kracht hart auf die Bahn. Das Fahrwerk bricht dabei ab, dann rutscht die Phenom in Richtung Pistenrand und kommt dort zum Stillstand. Die Besatzung und der Passagier haben großes Glück: Sie können das Flugzeug mit leichten Verletzungen selbstständig verlassen.

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Strömungsabriss kurz vor dem Touchdown: Wegen der vereisten Tragflächen funktionierte die Stall- Warnung des Embraer-Jets nicht. Die Crew wurde vom Abkippen der Maschine nach links völlig überrascht.

Eis an beiden Tragflächen

Vertreter der Luftaufsicht, die den havarierten Jet wenige Minuten nach dem Unfall inspizieren, können entlang der gesamten Vorderkante beider Tragflächen, an den Leitwerksflossen sowie am Fahrwerk einen Eisansatz von bis zu 10 Millimetern Dicke feststellen. Selbst drei Stunden später, beim Eintreffen der Ermittler der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU), ist das Eis noch vorhanden.

Schutzsystem nicht aktiviert

Bei der Untersuchung des Unfallhergangs stoßen die BFU-Experten zunächst auf einen merkwürdigen Widerspruch: Obwohl der Flug ganz offensichtlich unter Vereisungsbedingungen durchgeführt wurde, aktivierten die Piloten zwar die Anti-icing-Sys-teme der Triebwerke sowie die Wind-shield-Anti-icing-Systeme. Das sehr wirksame Schutzsystem gegen Eisansatz an Tragflächen und Leitwerk aktivierten sie dagegen nicht. Die Vereisung führte letztlich zum Strömungsabriss an der Tragfläche und in der Folge zu dem Crash. Der Pilot gibt bei der Untersuchung zu Protokoll, dass er zu dem Zeitpunkt, als der Jet die Wolken nach unten verließ, an dem für ihn einsehbaren äußeren Drittel der linken Tragfläche keinen Eisansatz gesehen habe. Die BFU-Ermittler halten es aber „für nicht plausibel, dass der bei der Untersuchung festgestellte Eisansatz erst nach dem Verlassen der Wolken entstanden sein kann“. Auch lasse sich die Aussage des Piloten, er habe eine visuelle Kontrolle durchgeführt, mit den Aufzeichnungen des Voice Recorders nicht belegen. Die Ermittler schließen daraus, dass der PIC den milchigen Eisansatz bei einem nur flüchtigen Blick entweder schlicht übersehen oder „dass er gar nicht danach gesehen hat“, heißt es in dem Bericht der BFU. Hinzu kommt, dass das De-icing-System in diesem Fall nicht reaktiv, also bei bereits vereisten Flächen, sondern proaktiv, das heißt noch vor einer zu erwartenden Vereisung eingesetzt werden muss. Der Grund dafür ist die Stall-Warnung: Sie funktioniert unter Vereisungsbedingungen nur, wenn das De-icing-System die Flächen frei von Eis hält.

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Die De-icing-Systeme ("Ice Protection", Bildmitte) waren beim Landeanflug deaktiviert.

Landegeschwindigkeit am oberen Limit

Möglicherweise war die Crew mit dem De-icing-System der Phenom 100 nicht hinreichend vertraut. Flugzeugmuster wie King Air und Super King Air, auf der der PIC neben dem Phenom-Jet flog, seien laut BFU mit anderen De-icing-Systemen ausgerüstet.

Bei der Beurteilung des Unfallgeschehens sehen sie zudem auch Mängel beim Crew-Resource-Management im Cockpit der Phenom 100. Die Mängel seien „in den Bereichen Kooperation, Kommunikation, Führungsverhalten, situative Aufmerksamkeit, gegenseitiges Überwachen und Entscheidungsfindung festzustellen“. Exemplarisch dafür steht der Sinkflug des Jets. Dabei forderte der PIC die Copilotin innerhalb von fünf Minuten neun Mal auf, eine hohe Geschwindigkeit zu halten, um den nachfolgenden Verkehr nicht zu behindern. Die Pilotin war dabei offenbar in einem Dilemma: Nach Auffassung der BFU versuchte sie einerseits, die Standard Operating Procedure (SOP) zu befolgen. Andererseits wollte sie einen Standard-ILS-Anflug durchführen. Die von der Lotsin geforderten 170 Knoten lagen aber am oberen Limit üblicherweise vorgegebener Geschwindigkeiten und berücksichtigten „nur unzureichend das betroffene Muster“, resümiert die BFU. Die Crew hätte die Forderung vom Tower auch ablehnen können, nach der SOP sogar ablehnen müssen, so die Ermittler. Das hätte der Copilotin womöglich einen stabilen und besser vorbereiteten Anflug ermöglicht. Vielleicht wäre dann auch die Entscheidungsfindung der Crew vorausschauender verlaufen.

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Erscheinungsdatum 20.03.2023