Am Flughafen Stuttgart kennt man die HY4 schon. Man müsse noch schnell bei Lufthansa Technik Schrauben für das Wasserstoffflugzeug holen, teilt H2FLY-Mitgründer und -CEO Josef Kallo über Funk dem Lotsen mit. Kallo sitzt am Steuer einer Cessna 172 und ist zusammen mit seinem Chefingenieur Steffen Flade auf dem Weg nach Friedrichshafen. Dort ist das besagte Wasserstoffflugzeug, die HY4, am Vortag gelandet. Der Flug an den Bodensee am 12. April war ihr erster Überlandflug, der nicht zurück zu ihrer Heimatbasis Stuttgart führte. Kallo bekommt grünes Licht, um zunächst zum nahen Hangar zu rollen, kurz darauf gibt es auch die Startfreigabe.
Stuttgart – Friedrichshafen: Luftlinie sind es etwas mehr als 120 Kilometer, eine Strecke, die die viersitzige HY4 ohne Probleme zurücklegt. Und das im Gegensatz zur Cessna 172 mit ihrem Sechszylinder-Einspritzmotor emissionsfrei. Angetrieben wird die HY4 von einem flüssiggekühlten Permanentmagnet-Synchronmotor, der mit zwei mal drei Phasen und mit zwei getrennten Siliziumkarbid-Invertern redundant ausgelegt ist. Er gibt seine 120 kW Leistung direkt an den Vierblatt-Propeller ab.
Unter der markanten Haube zwischen den beiden Rümpfen der HY4 wandeln vier in Reihe geschaltete Niedertemperatur-Brennstoffzellen Wasserstoff und Luftsauerstoff in Wasser und elektrische Energie um. "Wir nutzen 100 Prozent grünen Wasserstoff", sagt Kallo bei einem Rundgang um das Flugzeug nach seiner Ankunft in Friedrichshafen. Der Wasserstoff wird in zwei Drucktanks, die sich hinter den Sitzen befinden, mitgeführt. Je nach Druck (350 bis 438 bar) passen sieben bis neun Kilogramm Wasserstoff in die Tanks. Das sorgt für eine Reichweite von bis zu 750 Kilometer.
Hybrid-elektrischer Antrieb mit 120 kW
Die vier Brennstoffzellen leisten zusammen 52 kW, mehr als ausreichend für den Reiseflug. Für den Start und für Notfälle kommen noch zwei in Serie geschaltete Lithium-Ionen-Hochleistungsbatterien zum Einsatz, die maximal 90 kW beisteuern können. Insgesamt erreicht das System eine Gesamtleistung von 120 kW. "Die Batterien schalten sich automatisch dazu, sobald die Spannung der Brennstoffzellen unter diejenige der Batterien fällt", erklärt Kallo, während das Flugzeug in einem Hangar auf einen Testflug am Bodensee vorbereitet wird.
Knapp ein Dutzend Mitarbeiter des Stuttgarter Unternehmens H2FLY haben die HY4 nach Friedrichshafen begleitet. Schon seit dem Vormittag sind sie damit beschäftigt, das Flugzeug und seine sensiblen Teile, darunter Antriebsstrang, Tanks, Sensoren und die Kühlung noch einmal zu überprüfen. "Das Temperaturmanagement ist der Schlüssel", sagt Kallo. Darüber lässt sich die Feuchte der Brennstoffzellen regeln und so ihre Effizienz maximieren.
Die aus Stuttgart mitgebrachten Schrauben haben längst ihren Platz gefunden, als Gegengewicht am Spinner. Nun wird die HY4 endlich aus der Halle geschoben. Das Briefing vor dem Flug findet auf Englisch statt, einer der beiden Testpiloten, Pawel Adamczuk, kommt aus Polen. "We want to fly high, there is no limit", fasst der leitende Flugtestingenieur Christoph Rothkamm das Tagesziel zusammen. Heute soll die HY4 ihren eigenen Höhenrekord von 5785 Fuß brechen. Adamczuk und der zweite Testpilot Johannes Anton, beide in orangefarbenen Overalls, mit Helmen auf dem Kopf und mit Fallschirmen auf dem Rücken, steigen in den rechten Rumpf der HY4. Im linken Rumpf befinden sich ein 75-Kilogramm-Gewicht sowie die Telemetrie inklusive Batterien und Antennen. Die Daten von Brennstoffzellen, Batterien und Leistungselektronik sollen über LTE-Mobilfunk in Echtzeit auf die Konsolen der Ingenieure am Boden gestreamt werden.
Zwei Piloten, keine Passagiere
Seit das auf der Pipistrel Taurus G4 basierende Flugzeug im September 2016 in Stuttgart zum Erstflug abgehoben ist, hat es im Rahmen mehrerer Flugtestkampagnen mehr als 90 Starts und Landungen absolviert. Außer den Testpiloten, die sich die Aufgaben an Bord teilen, ist bisher kein Passagier mitgeflogen. Auch nicht Josef Kallo, der sich seit mehr als 15 Jahren mit dem Thema Brennstoffzellen in der Luftfahrt beschäftigt – von 2006 bis 2021 am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Stuttgart und seit 2014 als Professor für Elektrotechnik und Leiter des Instituts für Energiewandlung und -speicherung an der Universität Ulm, wo er derzeit freigestellt ist. "Ein Mitflug oder eine Einweisung in das Flugzeug hat sich bisher einfach nicht ergeben", sagt Kallo, seit zehn Jahren Inhaber einer Privatpilotenlizenz. Ihm ist es wichtiger, dass die HY4 ihr Testprogramm absolviert. Denn die Erkenntnisse daraus fließen in die Entwicklung eines 1,5 MW starken Brennstoffzellen-Antriebsstrangs ein, den H2FLY bis 2025 für eine 40-sitzige Dornier 328 bereitstellen will.
Kallo und der H2FLY-Werkstudent Jasper Jonitz steigen in die Cessna 172 und folgen der HY4 auf dem Taxiway zum Rollhalt der Piste 24. Beide Flugzeuge starten kurz hintereinander und fliegen zunächst eine langgezogene Rechtskurve Richtung Westen. Über die interne Funkfrequenz hört man das Bodenteam: "Low battery data. Could you please check?" Die Antwort der HY4-Piloten beruhigt: "Battery looks fine."
Die HY4 beginnt, sich über dem Bodensee in die Höhe zu schrauben. Es ist sonnig an diesem 13. April, aber die nahen Alpen erscheinen mit ihren schneebedeckten Gipfeln wie eine Fata Morgana im Dunst. Kallo und Jonitz verfolgen das Testflugzeug mithilfe von ADS-B. Bis auf 7230 Fuß (2204 m) schafft es die HY4. Das ist nach Einschätzung des H2FLY-Teams ein neuer Weltrekord für wasserstoffelektrische Passagierflugzeuge. Die Datenübertragung über LTE hat das Team unterdessen im Stich gelassen, das Netz wechselt ständig zwischen Österreich, Schweiz und Deutschland.
Nach einer guten Stunde landet die HY4 wieder auf dem Bodensee-Airport. Testpilot Johannes Anton ist zufrieden mit dem Flug. "Aber abends hätten wir sicher noch einmal 500 bis 600 Fuß mehr rausholen können", sagt er beim Debriefing. Im Hintergrund fliegt der Zeppelin NT vorbei. Seine Vorgänger waren vor mehr als 100 Jahren die ersten Fluggeräte, die Wasserstoff nutzten.