Die Luftfahrtindustrie gehört zu jenen Branchen, die seit Jahren intensiv an der Entwicklung umweltverträglicher Antriebe arbeiten. Ob Brennstoffzellen, Biosprit, bleifreie Kraftstoffe mit hoher Oktanzahl, reine Elektroantriebe oder Hybridkonstruktionen – die Zahl der Projekte ist wohl ebenso groß wie die der Unternehmen dahinter. Eines dieser Unternehmen ist H55 mit Sitz am Flughafen Sion, ein Spin-off von Solar Impulse. Die H55-Gründer André Borschberg, Gregory Blatt und Sébastien Aymon-Demont waren einst führende Köpfe bei der Solar Impulse SA. Der Fokus ihrer heutigen Firma liegt auf der Entwicklung eines Elektroantriebs mit modularer Batterietechnologie.
Von der Solar Impulse zu H55
Der 72 Jahre alte Schweizer Pilot und Ingenieur André Borschberg gehört zu den Pionieren einer CO2-armen Luftfahrt. Seine Solar Impulse 2 war ein mit Sonnenenergie betriebenes Elektroflugzeug, mit dem er gemeinsam mit Bertrand Piccard in den Jahren 2015/2016 die Welt umrundete (siehe Kasten). Während er in fünf Tagen und fünf Nächten den Pazifik überquerte, hatte Borschberg Zeit, um sich Entwicklungen nach der Solar Impulse auszumalen: "All die Entwicklungs- und Zertifizierungsarbeiten, die wir für das Solarflugzeug durchgeführt hatten, mussten in den Dienst der Luftfahrt der Zukunft gestellt werden. Es konnte keinen anderen Zweck geben", sagt er heute. Die beiden Generationen der Solar Impulse sollten nicht nur Rekorde brechen, sondern auch ein fliegendes Labor für elektrische Antriebssysteme der Zukunft sein. Es stellte sich die Frage, wie man das Know-how aus dem Projekt auf den Massenmarkt übertragen könnte. Die Idee von Photovoltaik aufgreifen? Zu anfällig, zu teuer und zu umständlich. Stattdessen übernahm man das Energiemanagement des fili-granen Solar-Riesen, um den Herstellern eine "schlüsselfertige" Antriebslösung auf Basis von Lithium-Ionen-Batterien anzubieten. "Die Schwierigkeit bestand nicht nur darin, eine neue Elektrotechnologie auf den Markt zu bringen, sondern eine Kombination aus Triebwerk und Batteriesystem zu zertifizieren, deren Architektur an jedes Flugzeug angepasst werden kann", erklärt Borschberg. "Wir positionieren uns nicht als Flugzeug-, sondern als Antriebshersteller." Als 2017, rund ein Jahr nach der Weltumrundung, in Sion der Startschuss für H55 fiel, profitierten Borschberg und sein Team von der Expertise, die sie sich beim Projekt Solar Impulse angeeignet hatten.

Von außen unterscheidet sich die B23 Energic kaum von ihrer Schwester mit Rotax-Motorisierung.
Elektro-Ganzmettalflugzeug
H55, heute rund 150 Mitarbeiter stark, nahm verschiedene Flugzeuge unter die Lupe, um die eigene Technologie zu implementieren. Die Wahl fiel auf die Bristell B23 des tschechischen Herstellers BRM Aero. "Wir haben uns für die B23 entschieden, weil sie modern, zuverlässig und, kurz gesagt, einfach gut konstruiert ist", sagt Borschberg. Der Erstflug des UL-Cruisers datiert auf das Jahr 2011, die CS-23-zertifizierte Version B23 fliegt seit 2019. Dank ihrer Ganzmetall-Konstruktion ist die B23 einfacher und kostengünstiger zu modifizieren als ein Composite-Flugzeug. BRM Aero reagierte auf die Initiative positiv und lieferte umgehend ein fabrikneues Flugzeug an H55, um es zu elektrifizieren. "Wir sind begeistert, dass wir mit H55 zusammenarbeiten, um die Energic zu entwickeln", sagte Martin Bříštěla, CEO von BRM Aero. Der Prototyp der Bristell Energic mit dem Kennzeichen HB-SXC absolvierte den Erstflug am 21. Juni 2019 mit Markus Scherdel an den Controls. Der Testpilot saß bereits im April 2010 beim Jungfernflug der ersten Solar Impulse im Cockpit.

Die Batteriezellen sind in Blocks miteinander verbunden. So lässt sich der Energiespeicher optimal im Flugzeug verteilen.
Skalierbare Technologie
H55 konzentriert sich auf den gesamten Antriebsstrang, also auf den Motor ebenso wie auf das Energiemanagement- und -kontrollsystem, die Pilotenschnittstellen und vor allem auf die Batterien. Das Energiespeichersystem (Energy Storage System, ESS) stellt den Hauptkompetenzbereich des Unternehmens dar. Es umfasst Batterieblöcke, ihr Managementsystem sowie alle EPS-Schnittstellen (Electric Propulsion System), also die Anbindung an den Motor. Der Clou ist das modulare Design der Batterien. Während die meisten Flugzeugbatterien aus schweren und unhandlichen Blöcken bestehen, setzt sich das Speichersystem der Energic aus 320 kubischen Modulen mit einer Kantenlänge von jeweils zehn Zentimetern und einem Gewicht von je 800 Gramm zusammen, die jeweils neun zylindrische Lithium-Ionen-Zellen (Typ 21700) umschließen. Die luftgekühlten Module sind untereinander verbunden. Je nach Bedarf an Spannung oder Leistung können die Zellen in Reihe oder parallel betrieben werden.
Die 320 Batteriewürfel mit zusammen 49 Kilowattstunden Kapazität sind so angeordnet, dass die Schwerpunktlage eines Flugzeugs beibehalten wird – im Fall der Energic befinden sich jeweils 120 Einheiten in den Flügeln und 80 in der Nase. In den Tragflächen nehmen sie, angeordnet in zwei Reihen, den Platz der Treibstofftanks entlang des Holms ein, um Redundanz zu gewährleisten. In der Nase sind die Würfel so installiert, dass der Elektroantrieb in puncto Masse und Schwerpunkt dem Rotax 915 iS entspricht. Um das Paket in ein anderes Flugzeug einzubauen – beispielsweise eine Cessna 172, Piper PA-28 oder DR400 –, müssten die Module nur anders verteilt werden. Als bei Tests bis zu 50 Prozent der Batterien deaktiviert wurden, war zwar die Reichweite beeinträchtigt, jedoch wurde kein Leistungsverlust festgestellt. Die Lebensdauer der Zellen gibt H55 mit 1000 Zyklen an.
Die elektrische Antriebseinheit EPU (Electric Power Unit) umfasst den flüssigkeitsgekühlten Elektromotor, den Controller, den Wechselrichter und die Leistungselektronik. Der Motor mit zwei mal drei redundanten Phasen leistet bis zu 104 Kilowatt (140 PS), was der Leistung des in der B23 bewährten Rotax 915 iS entspricht. Der Controller ist für eine ausreichende Sicherheitsreserve bis 200 Kilowatt und 800 Volt ausgelegt. Am Ende der Kette steht ein Duc-Propeller.

Die Avionik der B23 Energic informiert den Piloten über den Status des elektrischen Antriebsstrangs.
Fliegt wie die Rotax-Version – fast
Ein Probeflug mit der Energic war für diesen Bericht nicht möglich, schließlich handelt sich noch um einen Prototyp. Dieser Abschnitt basiert daher auf den Aussagen und Flugeindrücken der Testpiloten, insbesondere von Markus Scherdel, der über den zweiten EnergicPrototyp, Kennzeichen HB-SXD, berichtet.
Das Cockpit unterscheidet sich nicht von dem der B23. Die Kabine misst 1,30 Meter in der Breite, und die eleganten Sitze sind auch in der Energic mit rotem und grauem Alcantara bezogen. Bemerkenswert für ein Flugzeug dieser Kategorie ist die gesamte Verarbeitungsqualität. Die HB-SXD verfügt über zwei Garmin G5 plus Funkgerät und Transponder des Avionikspezialisten. Was das Elektroflugzeug von der B23 unterscheidet, sind die Instrumente für das Antriebssystem. Auf einem Display werden die Vitalparameter der Batterien und des Elektromotors angezeigt, auf einer Multifunktionsanzeige die Daten fürs Energie- und Leistungsmanagement. Noch ist die Auslegung der Systeme nicht endgültig, aber André Borschberg versichert, dass man "relativ nah" am Serienmodell sei.
Rollverhalten und Sichtverhältnisse unterscheiden sich nicht von denen der B23, wohl aber die Geräuschkulisse. Erstaunlich ist die Ruhe an Bord, vor allem, wenn das Flugzeug am Rollhalt steht und der Propeller nicht dreht. "Ich war es nicht gewohnt, in dieser Stille eine Checkliste abzuarbeiten. Am Anfang war es verwirrend, aber man gewöhnt sich daran", sagt Markus Scherdel. Piloten der Velis Electro wissen, wovon er spricht. Beim Start verrichten die 104 Kilowatt des Elektromotors kraftvoll ihren Dienst: Bereits nach 200 Metern Rollstrecke verlassen die Räder den Asphalt. Das virtuelle 15-Meter-Hindernis passiert die Energic nach rund 450 Metern.
Das Maximum Take-off Weight des Elektroflugzeugs steigt im Vergleich zur Verbrennervariante von 750 auf 900 Kilogramm. Gleichzeitig ist die Nutzlast geringer: 190 Kilogramm bei der Energic stehen 285 Kilogramm bei der Version mit Rotax 915 iS gegenüber, wobei der Faktor Sprit bei der Gewichtsberechnung entfällt. Die Steigrate der Elektroversion ist mit 800 Fuß pro Minute ordentlich, liegt aber unter der der 140 PS starken Turboversion der B23, die mit 1200 Fuß pro Minuten in den Himmel schießt. In der Höhe hingegen kann die Energic punkten: Da die Luftdichte beim Elektromotor keine Rolle spielt, bringt die Energic selbst oberhalb von 10 000 Fuß ihre volle Leistung, wobei auch der Turbolader in der Höhe seine Muskeln spielen lässt. Eine Stunde lang kann die Energic fliegen, dann verbleibt eine Reserve von zehn Minuten. Das ist genug für sechs Platzrunden in der Anfängerschulung. Das Aufladen kostet eine weitere Stunde Zeit, was zum Beispiel fürs Debriefing oder eine Theoriestunde ausreicht. Die Energiekosten pro Flugstunde beziffert der Hersteller basierend auf 20 Ct/kWh auf weniger als sieben Euro. Bei allen Einschränkungen gilt: Dieses Flugzeug ist nicht darauf ausgelegt, mit Superlativen zu punkten. Seine Mission liegt in einer effizienten und umweltfreundlichen Pilotenausbildung.
Beim Strömungsabriss verhält sich die Energic dank des identischen Schwerpunkts wie eine konventionelle B23. Ob mit oder ohne Klappen kippt das Flugzeug über die Nase ab, laut Testpilot ohne die Tendenz, nach einer Seite auszubrechen. Auch bei der Landung gibt es keine Überraschungen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es H55 gelungen ist, ein Elektroflugzeug auf die Beine zu stellen, das sich fast genauso verhält wie die Version mit Verbrennungsmotor.
Der Prototypenstatus zwingt beide Flugzeuge dazu, ihre Runden in Gleitflugdistanz zum Flughafen Sion zu drehen. Anlässlich der AERO 2024 erhielt H55 aber die Erlaubnis, die HB-SXD nach Friedrichshafen zu überführen. "Es war eine Reise von 200 Nautischen Meilen mit Zwischenstopps, da wir die Batterien aufladen mussten. So konnten wir uns mit Piloten unterhalten, die neugierig auf unsere Maschine waren. Es ist eine andere Art zu reisen. Man darf es nicht eilig haben, aber es ist keinesfalls unangenehm", erinnert sich Markus Scherdel.

Weltumrunder André Borschberg hat mit H55 eine weitere Karriere gestartet.
Nächste Schritte und Projekte
Zwischenzeitlich hat H55 Dependancen in Montreal, Kanada, und im französischen Toulouse gegründet. Entsprechend sind weitere Projekte in der Entwicklung. Zusammen mit Harbour Air, der größten Wasserfluggesellschaft Nordamerikas, arbeitet man an einer elektrischen de Havilland DHC-2 Beaver. Zudem ist H55 ein Partner von Pratt & Whitney Canada und Collins Aerospace bei der Entwicklung eines elektrischen Hybrid-Regionaltransportflugzeugs mit 49 Sitzplätzen. Pratt & Whitney Canada steuert die Turbine bei, Collins Aerospace die Elektromotoren und H55 das Energiemanagement.
Der nächste und wichtigste Schritt für H55 ist die Zertifizierung des elektrischen Antriebssystems. Nachdem André Borschberg im März 2024 die Genehmigung der Compliance Checklist – also den mit der EASA vereinbarten Fahrplan zur Zulassung – erhalten hat, ist er zuversichtlich, dass das Unternehmen im Laufe des Jahres 2025 das Ziel erreichen wird. Die CS-23-Zertifizierung für die Bristell Energic wird dann für die erste Hälfte 2026 erwartet. Damit wäre sie das erste nach CS-23-zertifizierte Elektroflugzeug, da die Velis Electro nach CS-LSA zugelassen ist. Die Auftragsbücher für die Energic hat H55 im November 2024 offiziell geöffnet. Für eine begrenzte Anzahl an Flugzeugen gilt ein Einführungspreis von 350 000 Euro netto, später soll der Preis auf 420 000 Euro zzgl. Steuer steigen. Laut H55 wurden bereits mehrere Bestellungen und Kaufabsichtserklärungen unterzeichnet, darunter eine von der Elfly Group: Die norwegische Firma hat fünf Energic bestellt und wird als Vertriebs- und Servicezentrum für das Flugzeug in den nordischen Ländern fungieren.
Fazit: Im Rennen um die erste CS-23-Zertifizierung für ein vollelektrisches Flugzeug haben sich H55 und BRM Aero einen Vorsprung erarbeitet. Allerdings schläft die Konkurrenz nicht: Aura Aero meldete kürzlich den Erstflug der Integral E, die auf Basis der zertifizierten Integral R entwickelt wird. Welches Elektroflugzeug wird als erstes den CS-23-Stempel erhalten? Die Antwort gibt es in den nächsten Monaten.

Die Flugerprobung der Bristell Energic spielt sich im nahen Umkreis des Flughafens Sion in der Schweiz ab.
Technische Daten Bristell Energic
Hersteller: BRM Aero, Kunovice, Tschechien, und H55, Sion, Schweiz
Bauweise: Metall
Insassen: 2
angestrebte Zulassung: CS-23
Preis: 350.000 Euro netto, später 420.000 Euro netto
Spannweite: 9,27 m
Flügelfläche: 11,75 m2
Flächenbelastung: 51,06 kg/m2
Länge: 6,58 m
Höhe: 2,36 m
Kabinenbreite: 1,30 m
Motor: EPS H55
Leistung: 104 kW (140 PS)
Propeller: Duc Flash-R, starr, Dreiblatt
Leermasse: 720 kg
max. Startmasse: 900 kg
Nutzlast: ca. 180 kg
Gepäckfach: 15 kg
Lastvielfache: +4/-2 g
Mindestgeschwindigkeit ohne Klappen, VS1 57 kts
Mindestgeschwindigkeit mit vollen Klappen 49 kts
Manövergeschwindigkeit, VA 98 kts
Reisegeschwindigkeit, Vc 110 kts
höchstzul. Geschwindigkeit, VNE k. A.
beste Steiggeschwindigkeit, Vy 85 kts
Steigrate: 890 ft/min
Startstrecke über 15-m-Hindernis: 460 m